Chiffren im Schnee
«Keine Angst, meine Liebe – eines Tages wirst du ein prächtiges Mitglied abgeben.»
«Charmant, wirklich charmant!» Lady Georgiana wandte sich Anna zu. «Wer ist übrigens der gut beleibte Herr mit der prächtigen Seidenweste? Er klingt wie ein Amerikaner.»
«Das ist Mister Derringer aus Chicago. Er ist Journalist und recherchiert für einen Artikel. Im letzten Frühjahr stieg hier ein junger Herr aus Boston ab und verschwand ein paar Tage später spurlos. Er war alleine ohne Bergführer unterwegs, der Alpenclub hat lange nach ihm gesucht, aber da war nichts zu machen. So etwas kommt vor, im Frühling gehen viele Lawinen nieder. Aber dann setzte sich irgendein Schreiberling in Amerika in den Kopf, dass der junge Mann von Bergführern absichtlich in die Irre geführt, ausgeraubt und ermordet wurde. Und dass viele in den Bergen verschwundene Fremde auf das Konto dieser Bande gehen sollen. Mister Derringers Zeitung hat ihn geschickt, um die Geschichte zu überprüfen.»
Lady Georgiana schüttelte den Kopf. «Nur Amerikanern können solche Schauergeschichten einfallen. Und dieser Mister Derringer geht der Sache allen Ernstes nach?»
«Das würde ich nicht gerade sagen. Seine Recherchen finden zumeist in den Wirtshäusern und hier in der Bar statt. Ich weiss nicht, was seine Vorgesetzten sagen werden, wenn sie die Spesenrechnung sehen. Das scheint ihm aber ziemlich egal zu sein. Ihm wurde gesagt, das wäre sein letzter Auftrag, er wäre zu alt. Also will er noch mal richtig Spass haben; das sind seine Worte. Ich glaube nicht, dass der Artikel je fertig wird.»
Der Lieutenant lachte. «Aha, nun, ich denke, diesen Mister Derringer können wir ausschliessen. Die Amerikaner beteiligen sich kaum an diesem Spiel. Zumindest nicht hier – im Pazifik sieht es schon anders aus. Wissen Sie, für welche Zeitung er schreibt, Miss Staufer?»
«Nein, leider nicht. Soviel ich weiss, ist es aber keines der Blätter, die wir im Haus führen; das sind nur New Yorker Zeitungen. Er machte einmal eine scherzhafte Bemerkung darüber, dass Chicago im Lesesalon nicht vertreten sei.»
«Wir sollten das herausfinden», meinte der Lieutenant zu Lady Georgiana. «Könntest du dich einmal ein wenig mit ihm unterhalten?»
«Das sollte kein Problem sein. Er scheint wohl jede Gelegenheit zu ergreifen, sich nicht mit seinen Recherchen befassen zu müssen. Gestern Abend unterhielt er sich sehr angeregt mit einem Herrn von ähnlicher Konstitution, der aber kaum noch ein Haar auf dem Haupt hatte.»
Anna musste nicht lange überlegen. «Das ist Monsieur van Ryssel, ihm gehört eine Maschinenfabrik in Belgien.»
«Er sieht aus, als würde er sich im Casino in Monte Carlo wohler fühlen.»
«Er vielleicht schon, aber vor einem Jahr hat er zum zweiten Mal geheiratet. Madame van Ryssel ist voller esprit und will unbedingt alle Wintersportarten auskosten. Ich habe gehört, dass sie heute von den deutschen Offizieren lernen will, einen Bobschlitten zu lenken.»
«Lassen Sie mich raten», meinte der Lieutenant. «Sie ist mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger als er, und was Madame will, bekommt sie auch.»
«Monsieur van Ryssel ist ein grosszügiger Gatte», antwortete Anna diplomatisch. Jedes Mal, wenn sie Madame van Ryssel sah, fragte sie sich, ob die Kleider und der Schmuck den Preis wohl wert waren.
Lady Georgiana liess sich seufzend auf das Sofa fallen. «Das ist alles schön und gut, aber irgendwie habe ich nicht den Eindruck, dass wir Fortschritte machen.»
Der Lieutenant starrte vor sich hin. Schliesslich meinte er: «Wir müssen geduldig sein, und wir dürfen nichts übersehen.»
«Das ist ziemlich schwierig, wenn wir nicht wissen, wonach genau wir Ausschau halten.» Lady Georgiana klang ein wenig ungeduldig.
Er beachtete sie nicht. «Was ist mit Ihnen, Miss Staufer? Haben Sie vielleicht noch etwas bemerkt? Irgendetwas, das ungewöhnlich erscheint?»
Sie zögerte nicht mit ihrer Antwort. «Das Orchester für den Neujahrsball ist zu früh aus Wien angereist. Angeblich ein Missverständnis mit ihrer Agentur.»
«Es wird kaum die Verstärkung für Frau Göweil sein», warf Lady Georgiana ein. «Die Musiker scheinen aus allen Ecken und Enden des Habsburgerreichs zu kommen, und der Kapellmeister ist Russe. Aber sie spielen himmlisch. Die beiden Gérard-Töchter haben gestern Abend mit den deutschen Offizieren getanzt, während die Frau Maman mit einem Gesicht danebensass, das Milch hätte sauer werden lassen. Ich kann es den
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