Chiffren im Schnee
Ende bereiten. Sie trat zu Frau Göweil. «Es tut mir leid, gnädige Frau, doch es sind nun mal nicht viele Menschen für diese Dinge so empfänglich wie Sie. Und was die Menschen nicht kennen, davor fürchten sie sich. Deshalb möchte ich Sie bitten, Ihr Wissen für sich zu behalten und jene, deren Geist nicht so klar sieht, nicht zu beunruhigen. Eine Gabe wie Ihre kann eine grosse Last sein, dessen bin ich mir bewusst, aber ich muss Sie um Nachsicht bitten.»
«Natürlich, ich verstehe vollkommen. Es ist nicht einfach, Aberglaube und Unwissenheit, die Jahrhunderte überdauerten, beizukommen. Ich will niemanden erschrecken.» Frau Göweil wandte sich der jungen Frau zu. «Glauben Sie mir, meine Liebe, was ich tue, ist vollkommen harmlos. Ich tausche mich nur mit meinem geliebten Gatten aus, den ich sehr vermisse. Sie stehen noch am Anfang Ihrer Ehe, doch finden Sie den Gedanken nicht auch tröstlich, dass das Band, das Sie mit Ihrem Gatten verbindet, über die Jahre so stark wird, dass der Tod es nicht durchtrennen kann? Geniessen Sie diese unbeschwerten Tage Ihres jungen Glücks! Lassen Sie zu, dass sie zu einem Fundament für etwas werden, das unendlich viel tiefer ist und ihr ganzes Wesen erfüllen wird.»
Die Augen von Frau Gürtler begannen verdächtig zu schimmern. Herr Gürtler hingegen gab ein verächtliches Geräusch von sich, doch als er den Blick bemerkte, mit dem ihn seine Gattin bedachte, obsiegten andere Gefühle. Sie hauchte ihm etwas ins Ohr, und tiefe Röte überzog sein Vollmondgesicht.
Anna nutzte die Gunst des Augenblicks. «Falls Sie lieber ein anderes Zimmer haben möchten», sagte sie zu den Gürtlers, «dann spreche ich jetzt gleich mit Herrn Ganz. Wir können einen Wechsel sofort in die Wege leiten.»
«Nein, schon gut», murmelte Herr Gürtler, während er in seiner Westentasche nach dem Zimmerschlüssel suchte. «Wir fühlen uns hier ganz wohl. Was denkst du, meine Liebe?»
«Aber ja doch», antwortete seine junge Braut leise, mit gesenkten Augen. Die beiden verabschiedeten sich hastig und verschwanden in ihrem Zimmer.
Frau Göweil hatte ihr Taschentuch gezückt, anscheinend von ihren eigenen Worten überwältigt. «Ach, die Liebe – eine Kraft, die auch der Tod nicht besiegen kann. Wie wunderschön zu sehen, wenn sie so jung erblüht.»
Darauf schien sie glücklicherweise keine Antwort zu erwarten und machte sich unter dem leisen Klimpern ihrer Jettperlen auf den Weg nach unten zur Frühstückstafel.
Anna wartete, bis die Frau Kommerzialrat ausser Hörweite war, dann kümmerte sie sich um die Zimmermädchen. In Hotels wurde gestorben, und das war im Splendid auch schon vorgekommen und würde wieder passieren. Das Letzte, was man da brauchen konnte, war abergläubisches Personal. Anna tat ihr Bestes, aber sie zweifelte an ihrem Erfolg. Helen und Edith begaben sich zwar wieder an ihre Arbeit, doch es war offensichtlich, dass sie es kaum erwarten konnten, ihr neu gewonnenes spiritistisches Wissen mit dem gesamten Personal-Speisesaal zu teilen. Mit einem Seufzen machte sich Anna auf den Weg zu Lady Georgianas Zimmer. Doch unterwegs lief ihr ein Page über den Weg, der ihr mitteilte, Lady Georgiana bedürfe ihrer Dienste nicht mehr, wünsche sie aber zur üblichen Zeit in der Kleinen Suite zu sehen.
Zu Annas Erstaunen öffnete der Lieutenant ihr die Tür. «Gut, dass Sie da sind, Miss Staufer.»
Lady Georgiana, die auf dem Sofa sass, schenkte Anna ein entschuldigendes Lächeln. «Ich wollte Lieutenant Wyndham eben die Ergebnisse unserer gestrigen Aussprache präsentieren und habe ganz nebenbei erwähnt, dass Sie heute Morgen Ihren ‹Zofenpflichten› nicht nachgekommen sind. Anscheinend hätte ich mich sofort nach dem Grund für Ihr Ausbleiben erkundigen müssen.»
Lady Georgiana hatte wohl noch Sportliches vor. Sie trug einen weit geschnittenen Tweedrock und eine adrette Bluse mit Krawatte. Ein hellblauer Sport-Cardigan, Mütze und Handschuhe lagen neben ihr auf dem Sofa.
Der Lieutenant wies auf den Fauteuil. «Bitte setzen Sie sich, Miss Staufer. Es tut mir leid, neugierig zu erscheinen, aber im Moment könnte alles wichtig sein.»
Er wartete, bis sie seiner Bitte nachgekommen war, und setzte sich dann in seinen Lesesessel. Auf dem kleinen Salontisch bemerkte Anna eine Schale mit Christrosen. Herr Brehm gab Christrosen normalerweise nicht für Zimmerschmuck her. Jost musste ihm ein guter Gehilfe gewesen sein.
Anna erzählte kurz, was zwischen den Gürtlers und Frau
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