Chill mal, Frau Freitag
hole Luft und schon brüllen sie wieder alle durcheinander. Jeder muss mir unbedingt noch was gaaanz Wichtiges mitteilen und versucht, die anderen zu übertönen, indem er sich die Lunge aus dem Hals brüllt.
Ich sehe und höre mir dieses Schauspiel an. Wie kleine Vögel im Nest. Der Mutter-Vogel kommt mit Würmern im Schnabel angeflogen und die kleinen Vögel recken ihre Köpfe und versuchen lautstark, auf sich aufmerksam zu machen.
Nur Abdul nicht, der sitzt ruhig vor einem DIN-A3-Blatt und zeichnet mit einem schwarzen Filzer, der bald den Geist aufgibt. Abdul ist der jüngste und gleichzeitig der größte Schüler meiner Klasse. Ich halte viel von ihm, stehe mit dieser Haltung allerdings sehr allein da. Im Lehrerzimmer verteidige ich ihn ständig vor den genervten Kollegen, denn bisher versteckt er seine Genialität noch ziemlich geschickt.
Komisch, denke ich, die anderen Schüler benutzen einen Bleistift. Was hat Abdul denn eigentlich auf sein Blatt gemalt? Und da sehe ich, dass sich in der Mitte eine Art Tic Tac Toe befindet und außen herum fliegen Penisse, beschnittene Penisse. Interessant, denke ich und vergleiche sein Bild mit denen seiner Mitschüler. Die anderen haben keine Geschlechtsteile auf ihren Arbeiten. Kann also nicht die Aufgabe gewesen sein. Ich nehme mir sein Blatt: »Soso, Abdul, war das hier deine Aufgabe?« Wortlosigkeit seinerseits. Ich falte das Blatt langsam, nehme einen Kugelschreiber und schreibe hinten »Abdul«, »Chemie« und das Datum drauf. Emre fragt: »Was machen Sie jetzt damit?«
»Ich glaube, das interessiert seine Mutter, was er hier so zeichnet. Ich zeige es ihr mal, damit sie auch was davon hat.«
Abdul sagt immer noch nichts. Ich verteile die Zettel, wünsche allen ein schönes Wochenende und gehe ins Lehrerzimmer. Dort zeige ich das Blatt einigen Kollegen und amüsiere mich noch mal über die Zeichnung. Mit welcher Detailgenauigkeit Abdul gezeichnet hat und wie schön die Penisse auf dem Blatt rumfliegen – herrlich. Aber ich bezweifle, dass seine Mutter ebensolche Freude daran haben würde. Seine Mutter kommt regelmäßig zu sehr emotionalen Elterngesprächen in die Schule. Sie wird seine Zeichnung wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Aber am letzten Tag der 10. Klasse werde ich Abdul sein Werk feierlich zurückgeben. Darauf freue ich mich jetzt schon.
Im Lehrerzimmer trinke ich meinen Endlich-Wochenende-Kaffee und frage mich: Was läuft bei mir verkehrt, dass ich ein solches Interesse an diesem neuen Lehrer habe, der bei uns unterrichtet. Der sieht nicht gut aus, und wenn der mich direkt anspricht, dann ist es mir eher unangenehm. Trotzdem hoffe ich immer, ihn im Lehrerzimmer zu treffen. Nach einem beiläufigen »Na, wie läuft’s so?« erwarte ich dann die übelsten Abkackstorys. Und in seinem Leid will ich mich dann suhlen. Kling recht sadistisch.
Gestern fragte eine Schülerin: »Frau Freitag, was ist masochistisch? Ist das, wenn man so völlig selbstverliebt ist?«
»Nein, das ist ein Narziss. Masochistisch, das ist … also, wenn man Schmerzen mag und wenn andere gemein sind zu einem.« Die Schüler gucken mich mit großem Unverständnis an. Ich präzisiere: »Na, so wie ich. Ich bin ein Masochist, weil ich euch als Klasse habe.« In dem Moment haben sie es kapiert.
Aber zurück zu meinem doch eher sadistischem Persönlichkeitsanteil. Die ganze Woche habe ich den neuen Kollegen nicht gesehen. Aber dann gehe ich gut gelaunt nach meiner letzten Stunde in Richtung Lehrerzimmer und singe leise vor mich hin: »Wochenende, Wochenende, Wochenende …« Da sehe ich ihn um die Ecke huschen. Wahrscheinlich kommt er gerade aus dem Lehrerzimmer und geht zum Unterricht. Schnell hinterher. Vielleicht kann ich an der Tür lauschen. Ich schleiche ihm also ins Treppenhaus nach, und plötzlich kommt er mir wieder entgegen. Verwirrt guckt er mich an. Die Stunde läuft bereits seit fünf Minuten. Bei uns legen zwar die Schüler keinen Wert auf Pünktlichkeit, aber das Kollegium nimmt es damit sehr genau.
Er, etwas außer Atem: »Ich suche meinen Kurs. In meinem Raum ist jetzt jemand anderes.« Ich souverän: »Komm mit, wir gucken mal.« Unterwegs treffen wir Schüler, die in seinem Kurs sein könnten, es aber nicht sind. Ich schicke ihn zu einer Kollegin, die ihm weiterhelfen kann, und gehe dann wieder ins Lehrerzimmer.
Zwanzig Minuten vor Stundenende sehe ich ihn mit fünf Schülern über den Hof latschen. In Zeitlupe. Ich beobachte alles ganz genau. Von hinten sieht
Weitere Kostenlose Bücher