Chill mal, Frau Freitag
noch nicht mal daran erfreuen. Im Gegenteil, sie tun mir unheimlich leid und ich habe jetzt schon Schiss, diese schlechten Zensuren bei der Konferenz vorzustellen: »Frau Freitag, Ausfälle in folgenden Fächern: Konsequenz, Strenge, Nachhilfe, Eltern informieren, zur Leistung motivieren, Fordern und Fördern, Fachlehrer bequatschen, dass sie die Noten raufsetzen, und überhaupt alles.«
Frau Freitag schafft die Versetzung leider nicht. Lehrerin bleiben, ausgeschlossen. Klassenlehrerin – dieses Amt wird ihr sofort entzogen, wegen Gefahr im Verzug. Um Ausschulung wird gebeten. Frau Freitag darf eine Maßnahme machen und nach der Maßnahme wieder eine Maßnahme und danach, tja, das war’s dann wohl, Frau Freitag. Hätten Sie sich früher mal mehr angestrengt. Das war ja ein Trauerspiel mit Ihrer Klasse. So hoffnungsvolle Schüler waren das. Nicht dumm, durchaus Potenzial für die gymnasiale Oberstufe, aber durch Sie … Kein einziger hat einen Schulabschluss geschafft. Frau Freitag, so kann und wird unser Sozialstaat sich nicht halten können. Sie sind schuld, wenn das Sozialsystem demnächst zusammenbricht, weil Sie keine Steuerzahler produzieren. Deshalb werden Sie auch NIE Rente bekommen. Und Hartz IV auch nicht. Wer soll denn das bezahlen? Ihre Klasse jedenfalls nicht, die hängt mit Ihnen zusammen in der Maßnahme.
Momentan bin ich davon überzeugt, dass aus keinem einzigen Schüler meiner Klasse etwas wird. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie sie mit den schlechten Halbjahreszeugnissen überhaupt weiterleben können. Allerdings gewährt mir die Realität immer wieder Einblicke in die Welt der Schüler nach der Schule, und zwar in Form von ehemaligen Schülern, die es nach ihrer Entlassung in regelmäßigen Abständen wieder zurück in unsere Schule zieht, vergleichbar vielleicht mit Mördern, die doch auch immer wieder an den Tatort zurückkehren.
Ich stehe auf dem Hof rum und mime eine aufmerksame Aufsicht, hetze zum Unterricht oder sitze abgeschlafft im Lehrerzimmer rum, da tauchen sie plötzlich auf. Die bekannten Gesichter aus einer anderen Zeit, aus vergangenen, längst verdrängten Schuljahren. Die Namen habe ich meistens nicht gleich parat – es sei denn, sie haben meinen Unterricht so massiv gestört, dass ich nächtelang von ihnen geträumt habe, dann fallen mir sofort Vor- und Nachname ein.
»Ah, Ali El-Hamade, was machst du denn hier? Du bist doch abgegangen, oder?«
»Frau Freitag, abó , wie geht es Ihnen? Ja, ich bin vor sechs Jahren von Schule weg. Haben Sie mich vermisst?«
»Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Was machst du denn jetzt?«
Stolz breitet sich über Alis Gesicht aus: »Ich fange bald Maßnahme an!«
Ich, wenig überrascht: »Maßnahme. Schön. Wo denn?«
Ali leicht verunsichert: »Na, Maßnahme, da, wie heißt das da? Na, so Maßnahme eben.«
»Und wo ist der Ferrari? Wolltest du nicht nach einem Jahr hier im Anzug und im Ferrari vorfahren?«
Ali grinst nur: »Abwarten, Frau Freitag, abwarten. Aber wie geht es Ihnen? Haben Sie neue Klasse? Sind die so schlimm wie wir?«
»Nein, nein, keine Angst, ihr wart die Schlimmsten. Du, Ali, schön dich zu sehen. Melde dich noch mal, wenn du den Hauptschulabschluss in der Tasche hast. Ich muss jetzt zum Unterricht. Tschüssi.« Damit lasse ich ihn stehen, und er sieht sich suchend nach anderen bekannten Gesichtern um.
Diese ehemaligen Schüler tun mir oft leid. Da kommen sie mit hohen Erwartungen zurück an den Ort, an dem sie Jahre ihrer Jugend verbracht haben, nur um dann festzustellen, dass sie nicht mehr dazugehören und sich auch niemand für sie Zeit nehmen kann. Ich versuche immer, kurz mit ihnen zu reden. Es interessiert mich ja auch wirklich, was aus ihnen geworden ist. Meistens hängen sie allerdings in irgendwelchen Warte-schleifen.
Momentan sehe ich ständig Frau von der Leyen durchs Fernsehen geistern. Dort sagt sie mit verschiedenen Worten immer wieder sinngemäß den gleichen Satz: Jugendliche dürfen nicht in Maßnahmen und Warteschleifen versauern. Ihnen sollen gute Angebote gemacht werden und so weiter. Wo darf ich denn die in Maßnahmen geparkten Ex-Schüler hinschicken, wo gibt es denn diese guten Angebote? Liebe Frau von der Leyen, kann ich die direkt an Sie verweisen? Sollen die mal vorbeikommen? Medial würde sich das sehr gut machen, wenn Sie Alis Interessen verträten und ihm bei der Zukunftsgestaltung behilflich wären.
Ich sehe es schon vor mir: Einspieler bei Anne Will .
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