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Chill mal, Frau Freitag

Titel: Chill mal, Frau Freitag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frau Freitag
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abzulenken und zeige ihm meine neue Lücke zwischen den Schneidezähnen, die ich seit der Zahnreinigung habe. Da pfeift jetzt der Wind durch und wenn ich spreche, kommt Spucke durch, das macht mich völlig verrückt. Diese neue Lücke scheint Bernd nun doch mehr als die Liebe zu interessieren, und wir stellen fest, dass er auch so eine hat: »Ach, vielleicht spreche ich deshalb so seltsam.«
    Mesut sagt: »Frau Freitag, Sie müssen eine Zahnspange tragen, dann geht das weg.« Ich zeige ihm die Lücke. Wir stellen fest, sie ist nicht groß genug. »Ich warte einfach, bis da wieder Dreck drin ist.« Dann klingelt es und die Schüler gehen. Sie bekommen für die Stunde alle eine gute Mitarbeitszensur.
    Zensuren, Zensuren, Zensuren
    Jetzt, kurz vor Ende des Halbjahres, kommt ja überhaupt wieder die schöne Zeit der Zensuren. Zensuren geben, Zensuren eintragen, Zensuren auswerten, Zensuren hinterherrennen, Zensuren besprechen, Zensuren ändern, Zensuren ändern lassen und so weiter. Ich empfinde eine Art vorweihnachtlicher Freude daran, auf die Zensuren meiner Klasse zu warten. Dann kopiere ich sie und streiche die Ausfälle mit einem Marker an. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Ausfälle – und Samira wird bestimmt wieder sagen: »Ich schwöre, die kriege ich alle weg. Glauben Sie mir!«
    Auch das Zensurenausrechnen macht mir viel Spaß. Und um einmal mit dem Vorurteil über unsere angeblich so willkürliche Zensurengebung aufzuräumen: Ich benote wie schon beschrieben, jeden Furz von jedem Schüler aufs Akribischste, und dann sitze ich mit krummem Rücken stundenlang über mein Notenheft gebeugt und rechne mit dem Taschenrechner mindestens zwanzig Zensuren für jeden einzelnen Schüler aus. Teilweise gibt es in den Fächern drei unterschiedliche Teilzensuren, die sich dann prozentual zusammensetzen, und auch das rechne ich aus. Und weil ich den Taschenrechner nicht so richtig verstehe, sind das unheimlich komplizierte Rechengänge. Ich verharre dabei in ein und derselben Position, bis mir die Bandscheiben rauchen.
    Schüler mit denen ich nicht so gut klarkomme, bekommen bei mir tendenziell bessere Noten, weil ich sonst das Gefühl habe, sie ungerecht zu behandeln. Jede einzelne Zensur ist bei mir nachvollziehbar und hätte sogar vor Gericht bestand. Denn bei uns scheint sich ein neuer Trend durchzusetzen: Die Eltern verklagen den Lehrer, wenn sie mit der von ihm gegebenen Zensur nicht zufrieden sind. Scheint sogar vom Jobcenter bezahlt zu werden, sicher bin ich mir allerdings nicht. Aber egal, die Klagen können kommen, ich bin vorbereitet.
    Wie versprochen habe ich übrigens jedem, der vor einiger Zeit in meinem Unterricht gesungen hat, einen Punkt von der Endnote abgezogen. Danach habe ich minutenlang auf das Blatt gestarrt und schließlich allen den Punkt zurückgegeben. Soviel dazu.
    Frau Freitags Versetzung ist stark gefährdet
    Ach, was sagen denn Noten schon aus? In meiner Klasse sagen sie: Die Hälfte der Schüler wird sitzen bleiben, wenn sie sich nicht massiv verbessern. Die Noten sagen allerdings auch, dass meine Klasse wahrscheinlich besser wäre, wenn sie einen konsequenteren und strengeren Klassenlehrer oder eine bessere Klassenlehrerin hätten.
    Jemanden, der beim ersten Schwänzen gleich zu Hause anruft und einen Riesenterror macht. Wenn ich jemand wäre, der ihnen bei der Vorbereitung auf jede einzelne Arbeit hilft, sie motiviert, abfragt, ihnen die Sachen erklärt, bis sie alles verstanden haben, dann hätten sie wahrscheinlich jetzt bessere Noten. Ich weiß hingegen gar nicht, wann sie eine Arbeit schreiben, und sie wissen es auch oft genug nicht und vergessen oder verdrängen diese Termine erfolgreich.
    Und was haben die Schüler nun davon, dass sie mich als Klassenlehrerin haben? Sie haben KEINE Schulversäumnis anzeigen, schlechte Noten, wenig im Hirn, aber viel Spaß auf dem Hof gehabt. Weder in der Schule noch außerhalb haben sie jemals einen Finger krumm gemacht. Ihre einzige Anstrengung zur Verbesserung ihrer schulischen Leistungen bestand darin, mir und sich, wahrscheinlich auch ihren Eltern und Allah und der Welt zu schwören, dass sie sich verbessern werden. Wir alle werden schon sehen. Die Schülerin, die am häufigsten von allen geschworen hat, sich zu verbessern, hat sich seit der letzten Notenabgabe sogar noch verschlechtert.
    Hilfe Fräulein Krise, was soll ich denn machen? Ich starre auf die markierten Fünfen und Sechsen meiner Schüler (die sogenannten Ausfälle) und kann mich

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