Chill mal, Frau Freitag
will auch mit Ton arbeiten und so einen lustigen Trickfilm machen, ich will Breakdancen und Feuerspucken lernen.«
Tja, dann melden sie sich bei der Schule an und es heißt: »Sorry, Feuerspucken nur für die Oberstufe. Mit Ton arbeiten, wo denkst du hin – das machen wir nur in der Ton-AG und die ist schon voll. Ach, die Bilder von der Klassenfahrt nach Italien, na ja, die sind schon älter, das war 1987, da konnte man mit den Schülern noch verreisen. Hat dir denn niemand gesagt, dass wir hier seit Jahrzehnten keine Fahrten mehr machen?«
Und dann sitzen die kleinen, aufgrund falscher Tatsachen angemeldeten neuen Schülerchen in der Klasse und hören zur Begrüßung: »Jacke aus, Blatt raus, Stift in die Hand, ich diktiere.«
Aber für uns Lehrer ist der Tag der offenen Tür eine super Sache. Für ein paar Stunden sind wir alle glücklich. Enthusiastisch präsentieren wir unseren Arbeitsplatz. Wir denken: Ist doch gar nicht so schlecht, was wir hier machen. Wir besuchen die Kollegen der anderen Fachbereiche und stellen überrascht fest: Na, das zischt und spritzt hier in Chemie – ist doch ein Riesenspaß, warum hassen meine Schüler denn den Chemieunterricht so sehr? Beschwingt gehen wir nach Hause und denken: Warum fühle ich mich denn so anders? So gar nicht niedergeschlagen und hoffnungslos? Und dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Es waren gar keine Schüler da. Die Arbeit könnte so schön und unkompliziert sein.
Was wäre eigentlich, wenn ich nicht Lehrer wäre. Unvorstellbar. Vorstellbar ist aber, dass ich irgendwann in Rente gehe. Mal angenommen, ich ginge nächste Woche in den Ruhestand, wie sähe dann mein Alltag aus?
Also, morgens gäbe es ja gar keinen Grund aufzustehen. Stünde ich dann gar nicht auf? Wer mich kennt, wird sich das nicht vorstellen können, und auch ich bin mir sicher, dass ich wie gewohnt um 6.10 Uhr aus dem Bett springe. Rein in den Bademantel, das automatische Frühstückmachen mit simultanem Geschirrspüler ausräumen, das hätte ich immer noch im System. Dann wie immer auf das Sofa und mit dem Frühstücksfernsehen frühstücken. Draußen wird es langsam hell. Fertig gefrühstückt. Und dann? Da ich nicht in die Schule muss, brauche ich mich auch nicht anzuziehen, also bleibe ich im Bademantel. Auch das Waschen und Zähneputzen macht dann eigentlich keinen Sinn. Den Fernseher ausschalten – warum?
So vergeht Stunde um Stunde. Draußen wird es langsam wieder dunkel. Ich habe mir sämtliche Gerichtsshows angesehen und bin dann beim Zoo hängengeblieben. Ich bilde mir ein, viel über die Pflege von Wildschweinen gelernt zu haben, und verspüre einen kleinen Hunger. In der Küche bereite ich mir einen Snack zu und breite mich damit wieder gemütlich vor dem Fernseher aus. Gleich kommen Explosiv und Exclusiv – Das Star-Magazin , ich bilde mir ein, dass ich das sehen muss, um gut informiert zu sein. Das schlechte Gewissen lässt mich daraufhin gleich drei unterschiedliche Nachrichtensendungen hintereinander sehen. Und dann kommt auch schon der 20.15Film. Um 22.30 Uhr döse ich vor Spiegel TV in die erste Leichtschlafphase hinüber.
Mein erster Tag im Ruhestand – war der Tag, an dem ich meine Ruhe fand.
Der zweite und dritte Tag gleichen dem ersten. Unterscheiden sich nur durch den 20.15-Film. Am dritten Tag ist der Kühlschrank leer, und meine Haare starten eine leichte Verfilzung. Ich muss einkaufen gehen. Waschen? Ach, ich ziehe mir schnell was über und setze eine Mütze auf, ich will doch bloß in den Supermarkt.
Soziale Kontakte meide ich, da sie mir meine Ruhestandsroutine durcheinanderbringen und ich nicht genug erlebe, um mich mit anderen Menschen zu treffen. Ich fürchte die Konversation.
Da ich das Haus nicht mehr verlasse und mich nicht mehr bewege, vergrößert sich mein Volumen. Meine Kleidung beginnt zu zwicken. Ich behalte nun ganztägig den Bademantel an. Der passt immer. Ich entdecke die Supermarkt-Internet-Bestellung und bin froh, meine Wohnung nicht mehr verlassen zu müssen. Die Wohnung verkeimt. Die Bewohnerin auch. Tatsächliche Freude empfinde ich nur noch beim Verzehr von Fertiggerichten und gesättigten Fettsäuren. Ich beginne zu trinken. Adipös vegetiere ich bis zu meinem plötzlichen Tod vor mich hin. Als man nach Wochen die Wohnungstür aufbricht, bin ich so dick, dass man mich durch das Fenster aus der Wohnung schaffen muss.
Ja, und das alles nur, weil mir Struktur fehlte. Ruhestand, pah, das will ich gar nicht. Ich arbeite
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