Chimären
Telefonaufpasser und dann Susan folgten. Schäffi blieb zurück. Susan war, als blicke sie der Gruppe traurig hinterher.
Im schmalen Wehrgang an der gewaltigen Mauer entlang liefen sie schweigend hintereinander.
Sie erreichten nach wenigen Minuten den kleinen, in die Mauer eingefügten Pavillon – ein ehemaliger Flankierungsturm – neben dem eine der großen historischen Kanonen stand, dräuend zum Fluss hinunter.
„Halt!“, gebot Lux. „Hier, Augenblick, bindet ihn an – so…“ Mit den Zähnen, unterstützt von Patty, zog er das Seil zwischen den Speichen des Rades der Kanone hindurch, und der Schimpanse verknotete es. Es lag nun lose, in einer Schlangenlinie da, befestigt am Rad der Kanone und an Remikows Oberkörper.
„Na hopp! Was zögerst du, Mann? Über die Mauer mit dir“, ermunterte Lux Remikow drängend.
„Bist du wahnsinnig?“, schrie der.
Mit einem Kopfruck setzte Lux seine Helfer in Szene. Zähnefletschend gingen sie auf Remikow zu.
„Nein!“, rief Susan.
Remikow wich bis an die Mauer zurück, die Hunde rückten drohend näher.
„Na, los, los“; rief Lux, „beim Schnippeln in unseren Köpfen hast du doch auch keine Hemmungen!“
Remikow schaute hilflos. Er stieg in die Scharte zwischen zwei Zinnen. Mindestens zwei, drei Meter würde er in die Tiefe stürzen, bis das Seil ihn aufnahm.
Susan erkannte seine Not. Sie sprang hinzu, ergriff das Seil, spannte es und stemmte sich mit beiden Füßen gegen die Mauer. „Tun Sie den Schweinen den Gefallen!“, zischte sie. Sie war sich bewusst, dass sie den schweren Mann würde nicht halten und langsam absinken lassen können. Aber um den Ruck abzumildern, sollte ihre Kraft reichen.
Die Zuschauer ließen sie ohne Anteilnahme gewähren.
Remikow klammerte sich an die Mauer und streckte langsam ein Bein nach dem anderen über den Abgrund, verhielt dann, sich sammelnd. „Jetzt“, stieß er hervor.
Susan wurde gegen die Mauer gerissen. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihre Hände, als sich das, was sie festhalten wollte, ihrem Druck widersetzte und ihr durch die Finger glitt.
Sie sah, wie Remikow mit einem Aufstöhnen verschwand und das Seil sich plötzlich straffte. Es versetzte ihr einen kräftigen Schlag gegen die Hüfte.
Still war es geworden am Schauplatz.
Susan betrachtete die Innenflächen ihrer geschundenen Hände. Rosarote, leicht blutende Stellen blanken Fleisches und euromünzengroße Hautfetzen verursachten brennenden Schmerz, der ihr Tränen in die Augen trieb.
Dann traten Lux und Susan an die Befestigung. Die Frau beugte sich darüber; der Hund zwängte sich in eine der Scharten, und sie blickten nach unten.
Remikow hing noch mit dem Gesicht zur Mauer und war gerade im Begriff, sich zu wenden. Er pendelte leicht hin und her.
„Wohlauf?“, rief Susan.
„Es geht“, kam es gequält zurück. „Wie lange wollen die mich hängen lassen?“
„Keine Angst“, antwortete an ihrer Statt Lux. „Ich bin kein Unhund.“ Offenbar fand er Gefallen an dieser von ihm geprägten Bezeichnung. „Ein Viertelstündchen, bis genügend von deiner Innung dich als lebendes Pendel gesehen haben und wissen, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Du weißt – ein Messer für Patty, ratsch, ratsch, und ab geht’s mit Remikow. Das können wir das nächste Mal, wenn sie uns wieder veräppeln, praktizieren.“ Er kroch aus der Mauerlücke zurück, wendete sich an Susan: „Merk’ dir das, und sag’s denen bei nächster Gelegenheit.
So, Freunde, kommt. Die sollen sehen, wie sie zurecht kommen.“ Und er trollte sich an der Spitze seiner Getreuen von dannen.
Susan wartete sekundenlang, bis die Troika hinter einer Biegung des Wehrganges verschwand. „Sie sind fort“, raunte sie dann über die Wehr gebeugt.
Remikow wendete sich mit dem Gesicht zurück zur Mauer. „Klemmen Sie etwas unter das verflixte Seil“, keuchte er, „damit ich es besser unterfassen kann.“
Susan fand einen halben Ziegelstein.
Remikow stemmte sich mit den Beinen ab; Susan beugte sich hinaus und drückte nach Kräften den Stein unter das Seil.
Langsam, Griff um Griff, hangelte sich der Mann empor, erreichte nach langen Minuten die Mauerkrone und kroch schließlich auf das Plateau, wo er atem- und kraftlos mit geschlossenen Augen eine Weile verharrte.
Plötzlich stellte Susan überrascht fest: „Sie haben uns beide allein gelassen!“
Remikow
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