Chocolat
groß wie ich. Sie starrt mir geradewegs in die Augen, mit aufrechter Haltung und trotzig vorgerecktem Kinn. Sie trägt einen langen, weiten, flammenfarbenen Rock und einen engen schwarzen Pullover. Diese Farbzusammenstellung signalisiert Gefahr, wie bei einer Schlange oder einem giftigen Insekt, eine Warnung an alle Feinde.
Sie ist meine Feindin. Ich habe es vom ersten Augenblick an gefühlt. Ich spüre ihre Feindseligkeit und ihr Mißtrauen, obwohl sie die ganze Zeit mit ruhiger, freundlicher Stimme spricht. Ich habe das Gefühl, daß sie auf mich lauert, um mich in Versuchung zu führen, daß sie irgendein Geheimnis kennt, das selbst ich … Aber das ist Unsinn. Was kann sie schon wissen? Was kann sie schon tun ? Sie stört lediglich meinen Ordnungssinn, so wie es einen Gärtner stören würde, wenn er Pusteblumen in seinem Garten entdecken würde. Der Same der Zwietracht ist überall, Vater, und er verbreitet sich unaufhaltsam.
Ich weiß. Ich übertreibe. Aber wir müssen immer wachsam sein, Sie und ich. Denken Sie nur an Les Marauds , wie wir die Zigeuner vom Ufer des Tannes vertrieben haben. Wissen Sie noch, wie lange es gedauert hat, wie viele vergebliche Beschwerden wir eingereicht haben, bis wir die Sache schließlich selbst in die Hand genommen haben?Erinnern Sie sich noch an meine leidenschaftlichen Predigten? Eine Tür nach der anderen wurde ihnen verschlossen. Einige der Ladenbesitzer haben sofort mit uns am selben Strang gezogen. Sie wußten noch, wie es beim letztenmal war, als die Zigeuner da waren, sie erinnerten sich an die Krankheiten, an die Diebstähle und die Hurerei. Sie waren auf unserer Seite. Aber ich weiß noch, daß wir Narcisse gehörig unter Druck setzen mußten, der ihnen, was mal wieder typisch für ihn war, im Sommer Arbeit auf seinen Feldern angeboten hatte. Aber am Ende haben wir sie alle verjagt, die düster dreinblickenden Männer und ihre frechen Schlampen, ihre unverschämten, barfüßigen Kinder, ihre räudigen Hunde. Schließlich sind sie alle abgezogen, und Freiwillige aus dem Dorf haben den Unrat beseitigt, den sie hinterlassen hatten. Ein einziges Samenkorn, mon père , würde ausreichen, um sie zurückzubringen. Das wissen Sie so gut wie ich. Und wenn sie dieses Samenkorn ist …
Gestern habe ich mit Joline Drou gesprochen. Anouk Rocher geht jetzt in die Grundschule. Ein vorlautes Kind, schwarzes Haar, wie die Mutter, und ein breites, freches Grinsen. Offenbar hat Joline ihren Sohn Jean erwischt, wie er mit ihr auf dem Schulhof irgendein Spiel spielte. Etwas Verderbliches, nehme ich an, Wahrsagerei oder so ein Unsinn, Knochen und Perlen auf dem Boden ausgebreitet … Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich diese Sorte kenne. Joline hat Jean verboten, noch einmal mit ihr zu spielen, aber der Junge hat eine halsstarrige Ader und schmollt seitdem. In diesem Alter kann man ihnen nur mit strengster Disziplinierung beikommen. Ich habe angeboten, selbst einmal mit dem Jungen zu reden, aber die Mutter wollte nichts davon wissen. So sind sie, mon père . Schwach. Schwach. Ich frage mich, wie viele von ihnen bereits ihr Fastengelübde gebrochen haben. Ich frage mich, wie viele von ihnen jemals vorhatten, es einzuhalten. Ich selbst spüre, daß das Fasten mich läutert. Allein der Anblick der Auslagen im Schaufenster des Fleischers stößt mich ab; ich nehme jede Art von Geruchmit einer solchen Intensität wahr, daß mir schwindelt. Plötzlich kann ich den Duft, der jeden Morgen aus Poitous Bäckerei dringt, nicht mehr ertragen; der Geruch von heißem Fett aus der rôtisserie an der Place des Beaux-Arts kommt mir vor wie Gestank aus der Hölle. Seit über einer Woche habe ich weder Fleisch noch Fisch noch Eier angerührt und mich nur von Brot, Suppe und Salat ernährt, dazu ein einziges Glas Wein am Sonntag, und ich bin geläutert, Vater, geläutert … Ich wünschte nur, ich könnte noch mehr tun. Das ist kein Leiden. Das ist keine Buße. Manchmal denke ich, wenn ich ihnen nur das rechte Beispiel sein könnte, wenn ich es sein könnte, der blutend und leidend am Kreuz hängt … Diese Hexe Voizin macht sich über mich lustig, wenn sie mit ihrem Korb voller Einkäufe an mir vorbeigeht. Als einzige aus dieser Familie braver Kirchgänger verabscheut sie die Kirche, grinst mich an, wenn sie an mir vorbeihumpelt, ihren Strohhut mit einem roten Tuch festgebunden, und mit ihrem Stock auf das Kopfsteinpflaster klopft … Nur wegen ihres Alters, mon père , und weil die Familie mich
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