Chocolat
feindselig.
Die Vertreibung aus dem Paradies war auch nicht fair, auch nicht die Verbrennung der heiligen Johanna von Orleans auf dem Scheiterhaufen und auch nicht die spanische Inquisition. Aber ich hütete mich, es auszusprechen. Ihre Züge waren angespannt, verbissen; ein leises Anzeichen von Schwäche, und sie wäre auf mich losgegangen.
»Du wirst neue Freunde finden.« Eine unbefriedigende Antwort. Anouk sah mich verächtlich an.
»Aber ich will Jeannot.« Ihre Stimme klang seltsam erwachsen, seltsam müde, als sie sich abwandte. Tränen quollen ihr aus den Augen, doch sie machte keine Anstalten, sich von mir trösten zu lassen. Und mit überwältigender Klarheit sah ich sie plötzlich vor mir, das Kind, die Heranwachsende, die Erwachsene, die Fremde, die sie eines Tages werden würde, und beinahe hätte ich vor Angst und Schrecken aufgeschrien, als wären unsere Positionen irgendwie vertauscht worden, als sei sie mit einemmal die Erwachsene und ich das Kind.
Bitte! Was würde ich nur ohne dich tun?
Aber ich ließ sie wortlos gehen. Ich sehnte mich danach, sie in die Arme zu nehmen, doch ich spürte die Mauer, die zwischen uns entstanden war. Kinder werden als wilde Kreaturen geboren, ich weiß. Ich kann nicht mehr erwarten als ein wenig Zärtlichkeit, eine scheinbare Fügsamkeit. Doch unter der Oberfläche bleibt die Wildheit, roh, grausam und fremd.Den ganzen Abend lang sprach sie fast kein Wort. Als ich sie zu Bett brachte, wollte sie keine Gutenachtgeschichte hören, aber sie konnte stundenlang nicht einschlafen und lag immer noch wach, als ich meine Nachttischlampe schon längst ausgeschaltet hatte. Von meinem Bett aus hörte ich sie in ihrem Zimmer hin- und hergehen und mit sich selbst – oder mit Pantoufle – reden, kurze, wütend abgehackte Sätze, zu leise, um etwas zu verstehen. Später, als ich mir sicher war, daß sie schlief, schlich ich hinüber, um das Licht auszumachen. Sie lag zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, einen Arm ausgestreckt, den Kopf auf seltsame und zugleich rührende Weise verdreht. Mit einer Hand hielt sie eine kleine Figur aus Knetgummi umklammert. Ich nahm sie ihr aus der Hand, als ich sie zudeckte, und wollte sie in die Spielzeugkiste zurücklegen. Sie war noch warm von ihrer kleinen Hand und roch unverwechselbar nach Grundschule, nach geflüsterten Geheimnissen, Plakafarbe und Druckerschwärze und halbvergessenen Freunden. Sie war kaum zwanzig Zentimeter groß, sorgfältig gearbeitet, Augen und Mund mit einem spitzen Gegenstand eingeritzt, um die Taille einen roten Wollfaden gebunden und mit einem zottigen Haarschopf aus kleinen Stöckchen oder Stroh … In den Körper der Puppe, etwa in der Herzgegend, war ein Buchstabe eingeritzt; ein großes J. Darunter ein großes A, das sich mit dem J überschnitt.
Ich legte die Puppe vorsichtig neben sie auf das Kopfkissen, schaltete das Licht aus und ging zurück in mein Zimmer. Irgendwann kurz vor dem Morgengrauen kam sie in mein Bett gekrochen, so wie sie es früher oft getan hatte, als sie noch kleiner war, und im Halbschlaf hörte ich sie flüstern: »Ist schon gut, Maman, ich bleibe doch immer bei dir.«
Sie duftete nach Salz und Babyseife, als sie sich im Dunkeln an mich kuschelte. Ich wiegte sie, wiegte mich selbst, hielt uns beide so fest in den Armen, daß es beinahe schmerzte.
»Ich hab dich lieb, Maman. Ich will dich immer und ewig liebhaben. Nicht weinen.«
Ich weinte nicht. Ich weine nie.
Ich schlief schlecht, von unruhigen Träumen geplagt; wachte mit der Dämmerung auf, Anouks Arm über meinem Gesicht, und plötzlich überkam mich eine solche Panik, daß ich nur noch wegrennen wollte, Anouk auf den Arm nehmen und weit weg fliehen … Wie sollten wir hier leben? Wie konnte ich nur so naiv sein anzunehmen, daß er uns hier nicht finden würde? Der Schwarze Mann hat viele Gesichter; sie sind alle gnadenlos, hart und seltsam neidisch … Lauf, Vianne, lauf. Lauf, Anouk. Vergiß deinen kleinen süßen Traum und lauf …
Aber diesmal nicht. Wir sind schon viel zu weit gelaufen. Anouk und ich, Mutter und ich, haben uns viel zu weit von uns selbst entfernt.
An diesem Traum werde ich festhalten.
Mittwoch, 19. Februar
Mittwoch ist unser Ruhetag. Heute ist schulfrei, und während Anouk in Les Marauds spielt, warte ich auf den Lieferwagen und stelle neues Konfekt für die kommende Woche her.
Diese Kunst kann ich genießen. Kochen ist eine Art Hexerei; das Auswählen der Zutaten, der Prozeß des
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