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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Die Fenster stehen offen, doch die Hitze der Öfen, die kupfernen Kasserollen,aus denen der Dampf der schmelzenden Schokolade aufsteigt, halten mich warm. Das Duftgemisch aus Kakao, Vanille, heißem Kupfer und Zimt ist sinnlich und berauschend; es erinnert an den schwülen, erdigen Geruch in den süd- und mittelamerikanischen Regenwäldern. Dies ist heute meine Art zu reisen, nach Art der Azteken mit ihren heiligen Ritualen; Mexiko, Venezuela, Kolumbien. Der Hof von Montezuma. Cortez und Kolumbus. Die Speisen der Götter sieden und blubbern in geweihten Kelchen. Das bittere Elixir des Lebens.
    Vielleicht ist es das, was Reynaud instinktiv spürt; einen Rückfall in Zeiten, als die Welt noch weiter und wilder war. Vor Christus – bevor Adonis in Bethlehem geboren wurde oder Osiris zu Ostern geopfert wurde – wurde die Kakaobohne als heilig verehrt. Man schrieb ihr magische Kräfte zu. Ein aus den Bohnen hergestelltes Gebräu wurde auf den Stufen von heiligen Tempeln geschlürft und versetzte diejenigen, die es tranken, in einen ekstatischen Rauschzustand. Ist es das, was er fürchtet? Vergnügen, das ins Verderben führt, die allmähliche Verwandlung des Fleisches in ein Instrument der Ausschweifung? Die Orgien der aztekischen Priesterkaste sind nichts für ihn. Doch in den Dämpfen der schmelzenden Schokolade beginnt etwas Gestalt anzunehmen – eine Vision, hätte meine Mutter gesagt –, ein aus Dampf geformter Finger, der auf etwas deutet …
    Da . Einen Augenblick lang glaubte ich es zu erkennen. Über der glänzenden Oberfläche kräuselt sich der Dampf. Dann noch einmal, ein bleicher Hauch, halb verdeckend, halb enthüllend … Einen Moment lang konnte ich die Antwort beinahe erkennen, das Geheimnis, das er – sogar vor sich selbst – so ängstlich verbirgt, den Schlüssel, der ihn – und uns alle – in Bewegung setzen wird.
    Schokolade als Orakel zu benutzen ist eine schwierige Angelegenheit. Die Visionen sind verschwommen, verschleiert durch die aufsteigenden Dämpfe und Düfte, die den Verstand benebeln. Und ich bin nicht meine Mutter, diebis zu dem Tag, an dem sie starb, wahrsagerische Fähigkeiten besaß, die so stark waren, daß wir von Entsetzen gepackt vor ihnen davonliefen. Doch bevor die Vision sich auflöst, bin ich sicher, etwas zu erkennen – ein Zimmer, ein Bett, einen alten Mann, der in dem Bett liegt, die Augen tief in den Höhlen seines bleichen Gesichts … Und Feuer. Feuer.
    Ist es das, was ich hatte sehen sollen?
    Ist das das Geheimnis des Schwarzen Mannes?
    Ich muß sein Geheimnis herausfinden, wenn wir hierbleiben wollen. Und ich muß bleiben. Was immer es mich kosten mag.
    Mittwoch, 19. Februar
    Eine Woche, mon père . Mehr nicht. Eine Woche. Aber es kommt mir länger vor. Ich begreife nicht, warum sie mich so irritiert; mir ist klar, was sie ist. Neulich bin ich bei ihr gewesen, um mit ihr über die sonntäglichen Öffnungszeiten zu reden. Der Laden ist wie verwandelt; es duftet verwirrend nach Ingwer und anderen Gewürzen. Ich habe versucht, nicht zu den Regalen hinzusehen, auf denen die Süßigkeiten ausgestellt sind; Schachteln, Schleifen in Pastelltönen, kandierte Mandeln mit Puderzucker bestäubt, Veilchenpastillen und Rosenblätter aus Schokolade. Der Laden hat etwas von einem Boudoir, etwas Intimes , er suggeriert eine Art Selbstvergessenheit mit seinem Duft nach Rosen und Vanille. Er erinnert mich an das Zimmer meiner Mutter; all die Schleifen, all der Brokat und das Kristallglas, das in dem gedämpften Licht funkelte, all die Fläschchen und Tiegel auf ihrer Frisierkommode, wie eine Armee von Flaschengeistern, die darauf warteten, losgelassen zu werden. Soviel Süße auf einmal hat etwas Ungesundes. Eine halberfüllte Verheißungdes verbotenen Genusses. Ich versuche, nicht hinzusehen, den Duft nicht zu riechen.
    Immerhin hat sie mich freundlich empfangen. Diesmal habe ich sie deutlicher gesehen; langes, schwarzes Haar, zu einem Knoten geschlungen, Augen so dunkel, daß sie keine Pupillen zu haben scheinen. Ihre Brauen sind vollkommen gerade, was ihr eine gewissen Strenge verleiht, die jedoch von den spöttisch geschwungenen Lippen Lügen gestraft wird. Breite, kräftige Hände; kurzgeschnittene Fingernägel. Obwohl sie sich nicht schminkt, hat ihr Gesicht etwas Unziemliches. Vielleicht es ist die direkte Art, mit der sie einen ansieht, wie ihre Augen forschend verweilen, der ironische Zug um ihre Mundwinkel. Und sie ist groß, zu groß für eine Frau, etwa so

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