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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Tropfenspur, die vom gelben Rand meiner Tasse herunterlief.
    »Ich dachte, Sie würden nicht darauf hören, was diese Leute sagen«, bemerkte ich.
    »Ich bin nur neugierig.« Wieder dieser trotzig-herausfordernde Blick, als hätte sie Angst, gemocht zu werden. »Und Sie haben sich neulich mit Armande unterhalten. Niemand redet mit Armande. Außer mir.«
    Armande Voizin. Die alte Frau, die in Les Marauds wohnt.
    »Ich mag sie«, erwiderte ich. »Warum sollte ich nicht mit ihr reden?«
    Joséphine ballte die Fäuste. Sie wirkte erregt; ihre Stimme klang plötzlich brüchig wie gesprungenes Glas. »Weil sie verrückt ist, darum!« Zur Unterstreichung ihrer Worte tippte sie sich mit dem Finger an die Schläfe. »Verrückt, verrückt, verrückt .« Dann fuhr sie beinahe flüsternd fort: »Ich will Ihnen mal was sagen. Durch Lansquenet verläuft eine Grenze« – sie demonstrierte es auf der Theke mit einem schwieligen Finger –, »und wenn man die überschreitet, wenn man nicht zur Beichte geht , wenn man seinen Ehemann nicht achtet , wenn man ihm nicht täglich drei Mahlzeiten kocht und am Kamin sitzt und sich fromme Gedanken macht, bis er abends nach Hause kommt, wenn man keine Kinder bekommt  – und wenn man zur Beerdigung seiner Freunde keine Blumen mitbringt, wenn man nicht staubsaugt oder die Blumenbeete nicht jätet!  …« Ihr Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Sie war außer sich vor Wut. » Dann ist man verrückt! « stieß sie hervor. »Dann ist man nicht normal und die Leute reden hinterm Rücken über einen und – und – und –«
    Sie brach ab, und der gequälte Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. Ich bemerkte, daß sie an mir vorbei aus dem Fenster starrte, doch wegen der Spiegelung in der Fensterscheibe konnte ich nicht erkennen, was sie sah. Es war, als wäre eine Jalousie vor ihrem Gesicht heruntergelassen worden, ihr Blick war leer und hoffnungslos.
    »Tut mir leid. Ich hab mich ein bißchen gehenlassen.« Sie trank den letzten Schluck Schokolade. »Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen reden. Und Sie nicht mit mir. Es ist alles so schon schlimm genug.«
    »Hat Armande das gesagt?« fragte ich freundlich.
    »Ich muß gehen.« Ihre Daumen bohrten sich wieder in ihr Brustbein, diese selbstanklagende Geste, die so charakteristisch für sie zu sein schien. »Ich muß gehen.« Der gequälte Blick war wieder da, sie öffnete den Mund mit angstvoll nach unten gezogenen Mundwinkeln, so daß sie beinahe debil wirkte … Doch die wütende Frau, die noch einen Augenblick zuvor zu mir gesprochen hatte, war weit davon entfernt, debil zu sein. Was – wen  – hatte sie gesehen, was hatte diese Reaktion ausgelöst? Als sie den Laden verließ, den Kopf gesenkt, wie um sich vor einem Schneesturm zu schützen, trat ich ans Fenster, um ihr nachzusehen. Niemand sprach sie an. Niemand schien in ihre Richtung zu schauen. In diesem Augenblick bemerkte ich Reynaud, der vor dem Kirchenportal stand. Reynaud und ein Mann mit Halbglatze, den ich nicht kannte. Beide starrten zum Schaufenster von La Praline herüber.
    Reynaud? Sollte er die Ursache ihrer Ängste sein? Ich spürte Ärger in mir aufsteigen bei dem Gedanken, daß er derjenige gewesen sein könnte, der Joséphine vor mir gewarnt hatte. Und dennoch hatte sie verächtlich gewirkt, als sie von ihm sprach, nicht ängstlich. Der zweite Mann war klein und massig; karierte Hemdsärmel über geröteten Unterarmen hochgekrempelt, eine kleine Intellektuellenbrille, die in dem fleischigen Gesicht seltsam fehl am Platze wirkte. Er strahlte eine unbestimmte Feindseligkeit aus, sein Blick war böseund mißtrauisch, und endlich wußte ich, daß ich ihn schon einmal gesehen hatte. Mit weißem Bart und rotem Mantel hatte er Süßigkeiten in die Menge geworfen. Beim Karnevalsumzug. Der Nikolaus, der die Bonbons so wütend in die Menge warf, als hoffte er, ein Auge zu treffen. In diesem Moment traten ein paar Kinder an das Schaufenster, so daß ich ihn nicht mehr sehen konnte, aber nun glaubte ich zu wissen, warum Joséphine so hastig die Flucht ergriffen hatte.
    »Lucie, siehst du den Mann da drüben? Den in dem karierten Hemd? Wer ist das?«
    Lucie verzieht das Gesicht. Weiße Schokoladenmäuse sind ihre Schwäche; fünf für zehn Francs. Ich stecke ein paar mehr in die Papiertüte.
    »Du kennst ihn doch sicher, nicht wahr?«
    Sie nickt.
    »Monsieur Muscat. Aus dem café .« Ich kenne es; ein düsteres kleines Lokal am Ende der Avenue des Francs Bourgeois .

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