Chocolat
Anrührens, das Zerkleinern, Schmelzen, Ziehenlassen und Abschmecken, die alten Rezepte, die vertrauten Werkzeuge – der Stößel und der Mörser, von meiner Mutter benutzt, um die Duftstoffe für ihre Räucherstäbchen zu zermahlen, wird zu einem profaneren Zweck eingesetzt, ihre Gewürze und Aromen dienen einem sinnlicheren Zauber. Zum Teil ist es die Flüchtigkeit, die mir besonderes Vergnügen bereitet; soviel liebevolle Arbeit, so viel Kunstfertigkeit und Erfahrung für einen Genuß, der nur einen Augenblick lang währt, und den nur wenige wirklich zu schätzen wissen. Meine Mutter hat meine Leidenschaft immer mit liebevoller Herablassung verfolgt. Essen war für sie kein Vergnügen, sondern eine lästige Notwendigkeit, eine Art Steuer auf den Preis für unsere Freiheit. Ich stahl Speisekarten aus Restaurants und starrte sehnsüchtig in die Schaufenster von Konditoreien. Ich muß etwa zehn Jahre alt gewesen sein – vielleicht auch älter –, als ich zum erstenmal echte Schokolade gekostet habe. Aber die Faszination ist geblieben. Ich bewahrte Rezepte in meinem Gedächtnis auf wie Landkarten. Alle möglichen Rezepte; Rezepte, die ich aus in Bahnhöfen liegengelassenen Zeitschriften gerissen hatte, die ich Fremden entlockt hatte, denen wir unterwegs begegnet waren, eigene Kreationen. Mit Hilfe ihrer Karten und Wahrsagereien bestimmte meine Mutter unseren Kurs kreuz und quer durch Europa. Meine Kochkarten markierten unseren Weg, sie waren die Meilensteine auf der trostlosen Landkarte. Paris duftet nach frischgebackenem Brot und Croissants, Marseille nach Bouillabaisse und geröstetem Knoblauch. Berlin war Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelsalat, Rom war das Eis, das ich in dem winzigen Restaurant am Flußufer geschenkt bekam. Meine Mutter hatte keine Zeit, Meilensteine zu setzen. All ihre Landkarten waren in ihrem Kopf, für sie war jeder Ort wie der andere. Schon damals waren wir verschieden. Oh, sie hat mir alles beigebracht, was sie konnte. Wie man zum Kern der Dinge vordringt, wie man Menschen durchschaut, ihre Gedanken und Sehnsüchte errät. Der Autofahrer, der anhielt und uns mitnahm, einen Umweg von zehn Kilometern in Kauf nahm, um uns nach Lyon zu bringen; die Ladenbesitzer, die kein Geld von uns nehmen wollten; der Polizist, der ein Auge zudrückte. Natürlich klappte es nicht jedesmal. Manchmal funktionierte es nicht, ohne daß wir verstanden, warum. Manche Menschen sind undurchschaubar, unerreichbar. Francis Reynaud ist einer von ihnen.Aber auch wenn es hin und wieder nicht gelang, hat mich dieses Eindringen in das Leben anderer immer irritiert. Es war einfach zu leicht. Aber Schokolade herzustellen ist etwas ganz anderes. Oh, es erfordert einiges Geschick. Eine gewisse Fingerfertigkeit, eine Geduld, die meine Mutter nie hatte. Aber das Rezept bleibt immer gleich. Es ist sicher. Harmlos. Ich brauche nicht in ihre Herzen zu schauen, um zu bekommen, was ich brauche; ich kann ihre Wünsche erfüllen, weil sie mich darum bitten.
Guy, mein Lieferant, kennt mich schon lange. Wir arbeiteten zusammen, als Anouk geboren wurde, und er hat mir geholfen, meinen ersten Laden zu eröffnen, eine winzige Pâtisserie-Chocolaterie am Stadtrand von Nizza. Jetzt ist er in Marseille ansässig, wo er die Kakaobutter direkt aus Südamerika importiert und in seiner Fabrik zu verschiedenen Sorten Schokolade verarbeitet. Ich verwende nur die beste. Die Blocks sind etwas größer als die Haushaltspackungen Blockschokolade und Kuvertüre, die man im Supermarkt kaufen kann. Bei jeder Lieferung ist ein Karton von jeder Sorte dabei: Zartbitter, Vollmilch und weiße Schokolade. Man muß sie erhitzen, damit sie die richtige Konsistenz erhält, und sie ganz vorsichtig abkühlen lassen, damit sie hart und glatt und glänzend wird. Manche Konditoren kaufen ihre Schokolade fertig gehärtet, aber ich mache das lieber selbst. Es ist ein unglaublicher Genuß, die rohen, matten Blocks Kuvertüre zu verarbeiten, sie per Hand in große Keramikkasserollen zu raffeln – ich benutze niemals eine elektrische Reibe –, sie zu schmelzen, zu rühren, jeden komplizierten Schritt mit einem Zuckerthermometer zu überwachen, bis genau die richtige Temperatur erreicht ist, die nötig ist, um den gewünschten Geschmack zu erzielen.
Es ist ein alchemistisches Vergnügen, die matte Kuvertüre in das Narrengold zu verwandeln, eine Art laienhafter Zauber, der meiner Mutter gefallen hätte. Bei der Arbeit denke ich an nichts, atme tief und ruhig.
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