Chocolat
alten Knacker aus dem Café da drüben sollten sich in acht nehmen. Man ist nie zu alt, um sich zu amüsieren!« Sie brach in schrilles Gelächter aus. Schrill und aufgekratzt, die knorrigen Hände unruhig. Mehrmals faßte sie an ihre Hutkrempe, wie um den Hut zurechtzurücken.
Hinter der Theke schaute ich heimlich auf die Uhr, aber sie bemerkte es trotzdem.
»Er wird nicht kommen«, sagte sie trocken. »Mein Enkelsohn. Jedenfalls rechne ich nicht damit.« Jede ihrerGesten strafte ihre Worte Lügen. Die Sehnen an ihrem Hals zeichneten sich ab wie bei einer alten Tänzerin.
Eine Weile plauderten wir über dieses und jenes; über die Dinge, die die Kinder sich für das Fest ausgedacht hatten – Armande bog sich vor Lachen, als ich ihr von dem Jesus und dem Papst aus Schokolade erzählte –, über die fahrenden Leute. Anscheinend hatte Armande Lebensmittel für die Leute am Fluß auf ihren Namen bestellt, sehr zum Unwillen von Reynaud. Roux wollte ihr das Geld erstatten, doch sie möchte lieber, daß er ihr dafür ihr undichtes Dach repariert. Georges Clairmont wird einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er davon erfährt, wie sie mir spitzbübisch grinsend erklärte.
»Er bildet sich ein, er sei der einzige, der mir helfen kann«, sagte sie zufrieden. »Er und Caro stehen sich in nichts nach, sie versuchen dauernd, mir einzureden, mein Haus sei feucht und ungesund. In Wirklichkeit wollen sie mich nur da raushaben. Ich soll mein schönes Haus aufgeben und in so ein lausiges Altenheim ziehen, wo man um Erlaubnis bitten muß, wenn man zum Klo will!« sagte sie empört. Ihre schwarzen Augen funkelten erbost.
»Denen werd ich’s zeigen«, fuhr sie fort. »Roux hat auf dem Bau gearbeitet, bevor er unter die fahrenden Leute gegangen ist. Er und seine Freunde werden mein Dach schon richten. Und lieber bezahle ich diese Leute für ihre ehrliche Arbeit, als mir mein Dach von diesem Schwachkopf umsonst reparieren zu lassen.«
Mit zitternden Händen rückte sie ihren Hut zurecht.
»Ich rechne nicht mit ihm, wissen Sie.« Ihre Stimme klang wieder so gereizt wie anfangs.
Ich wußte, daß sie nicht mehr von derselben Person redete. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zwanzig nach vier. Es begann bereits dunkel zu werden. Und ich war mir so sicher gewesen … Das kommt davon, wenn man sich einmischt, sagte ich mir entnervt. Wie leicht fügt man sich selbst und anderen ungewollt Leid zu.
»Ich habe nie geglaubt, daß er kommen würde«, fuhr sie in demselben scharfen Ton fort. »Dafür wird sie schon gesorgt haben. Sie hat ihn gut erzogen.« Mühsam begann sie von ihrem Hocker zu klettern. »Ich habe schon zuviel von Ihrer Zeit in Anspruch genommen«, sagte sie knapp. »Ich muß –«
» M-Mémée .«
Sie fährt so abrupt herum, daß ich fürchte, sie stürzt. Der Junge steht still in der Tür. Er trägt Jeans und ein Matrosenhemd und auf dem Kopf eine Baseballmütze. In der Hand hält er ein kleines, zerlesenes Buch. Er spricht leise und unsicher.
»Ich mußte w-warten, bis meine M-Mutter weg war. Sie ist beim Frisör. Sie k-kommt erst um sechs wieder n-nach Hause.«
Armande schaut ihn an. Sie berühren sich nicht, aber ich spüre, daß sich zwischen ihnen etwas abspielt wie eine elektrische Entladung. Es ist zu komplex, als daß ich es benennen könnte, aber ich spüre Wärme und Wut, Verlegenheit und Schuldgefühle – und über allem die Freude über das Wiedersehen.
»Du bist ja völlig durchnäßt. Ich mache dir etwas Heißes zu trinken«, sage ich und gehe in die Küche. Beim Weggehen höre ich den Jungen etwas sagen, leise und zögernd.
»Danke für das B-Buch«, sagt er. »Ich habe es mitgebracht.« Er hält es hoch wie eine weiße Fahne. Es ist nicht mehr neu, sondern so abgegriffen wie ein Buch, das immer wieder gelesen wurde. Als Armande es registriert, verschwindet der angespannte Ausdruck aus ihrem Gesicht.
»Lies mir dein Lieblingsgedicht vor«, sagt sie.
Während ich in der Küche Schokolade in zwei große Tassen gieße, Sahne und Cognac hineinrühre, während ich mit Töpfen und Tellern klappere, um ihnen das Gefühl zu geben, daß sie ungestört sind, höre ich den Jungen das Gedicht vortragen, anfangs steif und gestelzt, doch dann gewinnt er Selbstvertrauen und findet seinen Rhythmus. Ichkann die Worte nicht verstehen, aber es klingt fast wie ein Gebet.
Mir fällt auf, daß der Junge beim Vorlesen nicht stottert.
Vorsichtig stellte ich die beiden Tassen auf die Theke. Als er mich durch die
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