Chocolat
aber Reynaud hat sie fortgeschickt. Ich rief sie zurück, doch sie waren zu sehr auf der Hut und warfen mir feindselige Blicke zu, ehe sie den Hügel hinunterrannten.
Ich war so sehr in meine Vorbereitungen und die Gestaltung meines Schaufensters vertieft, daß ich die Zeit vergaß. Anouk machte in der Küche Butterbrote für ihre Freunde, dann zogen sie wieder in Richtung Flußufer ab. Ich schaltete das Radio ein und sang vor mich hin, während ich die Pralinen und Trüffel sorgsam zu Pyramiden stapelte. Der Zauberberg hat eine Öffnung, eine mit Schätzen gefüllte Höhle; lauter bunte Süßigkeiten glänzen und glitzern wie Edelsteine. Dahinter, durch die verkleideten Regale vor dem Licht geschützt, liegen die zum Verkauf vorgesehenen Waren. Ich muß eigentlich sofort mit der Herstellung des Ostersortiments beginnen, da ich in der Osterzeit mit mehr Kundschaft rechne. Zum Glück bietet der kühle Keller genug Lagerraum. Ich muß Geschenkkartons, Schleifen, Cellophantüten und anderen Osterschmuck bestellen. Ich war so beschäftigt, daß ich beinahe nicht gehört hätte, wie Armande durch die halb offenstehende Tür eintrat.
»Guten Tag«, sagte sie in ihrem üblichen brüsken Ton. »Ich wollte mir eigentlich noch eine Tasse von Ihrer Schokoladenspezialität gönnen, aber wie ich sehe, haben Sie zu tun.«
Vorsichtig kletterte ich aus dem Fenster.
»Nein, nein«, erwiderte ich. »Ich hatte Sie schon erwartet. Außerdem bin ich fast fertig, und mein Rücken bringt mich um.«
»Also, wenn ich Sie nicht störe …« Sie war irgendwie anders als sonst. In ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe, eine gewollte Beiläufigkeit, mit der sie ihre gewaltige Anspannung zu überspielen suchte. Sie trug einen schwarzen Strohhut mit einem bunten Hutband und einen ebenfalls schwarzen Mantel, der nagelneu aussah.
»Sie sind aber schick heute«, bemerkte ich.
Sie lachte kurz auf.
»Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt«, erwiderte sie, während sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen der Barhocker deutete. »Glauben Sie, es würde mir gelingen, auf einen von diesen Hockern hier zu klettern?«
»Ich hole Ihnen einen Stuhl aus der Küche«, schlug ich vor, doch die alte Dame hielt mich mit einer herrischen Geste zurück.
»Unsinn!« Sie beäugte den Hocker. »In meiner Jugend war ich sehr geschickt im Klettern.« Sie raffte ihren langen Rock hoch, so daß ihre robusten Schnürstiefel und dicke, graue Strümpfe zum Vorschein kamen. »Meistens bin ich auf Bäume geklettert und habe die Passanten mit kleinen Zweigen beworfen. Ha!« Sie stieß ein zufriedenes Grunzen aus, als sie sich, mit einer Hand auf die Theke gestützt, auf den Hocker schwang. Unter ihrem Rock blitzte kurz etwas leuchtend Rotes auf.
Stolz und mit sich selbst zufrieden thronte Armande auf dem Hocker und glättete sorgfältig ihren Rock über dem roten Unterkleid.
»Rote Seidenunterwäsche«, sagte sie grinsend, als sie meinen Blick bemerkte. »Wahrscheinlich halten Sie mich für eine alte Närrin, aber mir gefällt sie. Ich trage schon seit so vielen Jahren Trauer – jedesmal, wenn es soweit ist, daß ichwieder mit Anstand bunte Farben tragen könnte, fällt der nächste tot um –, daß ich es inzwischen aufgegeben habe, etwas anderes als Schwarz zu tragen.« Sie sah mich strahlend an. »Aber Unterwäsche – das ist etwas ganz anderes.« Sie senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich bestelle sie per Katalog aus Paris«, sagte sie. »Kostet mich ein Vermögen.« Sie lachte lautlos in sich hinein. »So, wie wär’s mit einer Tasse Schokolade?«
Ich machte sie stark und dunkel und wegen ihres Diabetes mit so wenig Zucker wie möglich. Armande hatte mich jedoch beobachtet und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf die Tasse.
»Hier wird nichts rationiert!« befahl sie. »Geben Sie mir alles, was dazugehört. Schokostreusel, einen von diesen Schokoladenrührlöffeln, alles. Fangen Sie bloß nicht auch noch an wie die anderen, die alle glauben, ich könnte nicht selbst auf mich aufpassen. Sehe ich etwa so aus, als wäre ich senil?«
Ich gab zu, daß das nicht der Fall war.
»Na also.« Mit sichtbarer Genugtuung nippte sie an dem süßen Getränk. »Gut. Hmmm. Sehr gut. Es heißt, so was bringt Energie, nicht wahr? Das ist ein, wie heißt es gleich, ein Aufputschmittel, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Und außerdem ein Aphrodisiakum , wie ich gehört habe«, fügte sie verwegen hinzu, während sie über den Tassenrand lugte. »Diese
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