Chocolat
Richtung Les Marauds –, »und selbst er dort drüben in seinem Elfenbeinturm. Wir alle sind dabei, uns zu verändern. Wir kommen auf Trab. Wie eine alte Uhr, die man wieder aufgezogen hat.«
Es erinnerte mich zu sehr an meine eigenen Gedanken, die mir in der vergangenen Woche durch den Kopf gegangen waren. Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Es liegt nicht an mir«, sagte ich. »Es ist Reynaud. Nicht ich.«
Plötzlich tauchte in meinem Kopf ein Bild auf, als hätte ich eine Karte umgedreht. Der Schwarze Mann in seinem Turm mit der großen Uhr, der das Uhrwerk immer schneller laufen läßt, der die Veränderung einläutet, vor Gefahren warnt, uns alle aus der Stadt läutet … Und dann sah ich plötzlich einen alten Mann im Bett, mit Schläuchen in Nase und Armen, und der Schwarze Mann stand trauernd odertriumphierend über ihn gebeugt, während hinter ihm die Flammen loderten …
»Ist er sein Vater?« Ich sprach die ersten Worte aus, die mir in den Sinn kamen. »Ich meine – der alte Mann, den er besucht. Im Krankenhaus. Wer ist er?«
Armande schaute mich verblüfft an.
»Woher wissen Sie davon?«
»Manchmal habe ich – so eine Ahnung.« Aus irgendeinem Grund scheute ich mich, ihr von meiner Wahrsagerei mit der Schokolade zu erzählen, scheute mich davor, die Worte auszusprechen, die mir von meiner Mutter so vertraut waren.
»Eine Ahnung.« Armande wirkte neugierig, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
»Es gibt also tatsächlich einen alten Mann?« Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich auf etwas Wichtiges gestoßen war. Vielleicht eine Waffe in meinem heimlichen Kampf mit Reynaud.
»Wer ist er?« beharrte ich.
Armande zuckte die Achseln.
»Ein Priester«, sagte sie verächtlich. Mehr bekam ich nicht aus ihr heraus.
Donnerstag, 27. Februar
Als ich heute morgen den Laden aufschloß, stand Roux vor der Tür. Er trug einen Jeans-Overall und hatte sein Haar im Nacken zusammengebunden. Er schien schon eine Weile gewartet zu haben, denn in seinem Haar und auf seinen Schultern hatten sich durch den Morgennebel kleine Tröpfchen gebildet. Er schenkte mir ein angedeutetes Lächeln, dann schaute er an mir vorbei in den Laden, wo Anouk gerade frühstückte.
»Hallo, kleine Fremde«, sagte er. Diesmal war das Lächeln, das sein Gesicht kurz erhellte, echt.
»Kommen Sie rein. Sie hätten klopfen sollen. Ich habe Sie da draußen nicht gesehen.«
Roux murmelte etwas in seinem starken Marseiller Dialekt und trat zögernd ein. Er bewegt sich seltsam geschmeidig und unbeholfen zugleich, als fühle er sich in geschlossenen Räumen nicht wohl.
Ich schenkte ihm eine große Tasse mit einem Schuß Cognac ein.
»Sie hätten Ihre Freunde mitbringen sollen«, sagte ich beiläufig.
Er zuckte die Schultern. Ich bemerkte, wie er sich im Laden umsah und alles um sich herum interessiert, fast mißtrauisch betrachtete.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte ich und deutete auf die Hocker vor der Theke. Roux schüttelte den Kopf.
»Danke.« Er trank einen Schluck. »Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob Sie mir vielleicht helfen können. Uns.« Er klang zugleich verlegen und ärgerlich. »Es geht nicht um Geld«, fügte er eilig hinzu, wie um einer möglichen Absage zuvorzukommen. »Wir würden natürlich dafür bezahlen. Wir haben einfach Schwierigkeiten mit … der Organisation .«
Ich bemerkte den Groll in seinem Blick.
»Armande … Madame Voizin … hat gesagt, Sie würden uns helfen«, sagte er.
Er erläuterte mir die Situation, während ich schweigend zuhörte und hin und wieder aufmunternd nickte. Ich begriff allmählich, daß er keineswegs unfähig war, sich klar und deutlich auszudrücken, sondern daß es ihm zutiefst widerstrebte, um Hilfe bitten zu müssen. Trotz seines starken Dialekts sprach Roux wie ein intelligenter Mann. Er habe Armande versprochen, ihr Dach zu reparieren, erklärte er. Es sei nicht besonders schwierig und würde nur ein paar Tage in Anspruch nehmen. Leider gehöre der einzige Ladenim Ort, wo man Holz, Farbe und alle sonstigen Utensilien erstehen könne, Georges Clairmont, und der weigere sich kategorisch, ihm oder Armande das nötige Material zu verkaufen. Wenn seine Schwiegermutter ihr Dach reparieren lassen wolle, hatte er ihm beschieden, dann solle sie sich gefälligst an ihn wenden und nicht an irgendwelche dahergelaufenen Zigeuner. Er habe ihr schließlich seit Jahren angeboten, das Dach in Ordnung zu bringen, und zwar umsonst. Es sei nicht auszudenken, was
Weitere Kostenlose Bücher