Chocolat
passieren könne, wenn sie die Zigeuner erst einmal in ihr Haus ließe. Wertsachen, Geld, sie würden garantiert alles mitgehen lassen, was nicht nietund nagelfest sei … Es wäre nicht das erstemal, daß eine alte Frau um ihrer bescheidenen Habe willen mißhandelt oder erschlagen würde … Nein, es sei ein absurdes Ansinnen, und er könne beim besten Willen nicht …
»Dieser scheinheilige Bastard«, zischte Roux. »Er glaubt, über uns Bescheid zu wissen – er hat keine Ahnung. Wenn man ihm glaubt, sind wir alle Diebe und Mörder. Ich habe immer für alles bezahlt. Ich habe noch nie gebettelt, habe immer gearbeitet.«
»Trinken Sie noch eine Tasse Schokolade«, sagte ich sanft und schenkte ihm nach. »Nicht jeder denkt wie Georges und Caroline Clairmont.«
»Das weiß ich.« Seine Haltung war immer noch abweisend, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Clairmont hat mir schon einmal Baumaterial geliefert«, fuhr ich fort. »Ich werde ihm sagen, ich würde noch ein paar Dinge im Haus renovieren. Wenn Sie mir eine Liste geben, werde ich das Material für Sie bestellen.«
»Ich werde für alles bezahlen«, wiederholte er noch einmal, als könne er mir seine Absicht nicht oft genug beteuern. »Das Geld ist wirklich nicht das Problem.«
»Selbstverständlich nicht.«
Er entspannte sich ein wenig und trank noch einen Schluck Schokolade. Zum erstenmal schien er zu bemerken, wie gut sie schmeckte, denn er lächelte mich plötzlich beglückt an.
»Armande ist gut zu uns«, sagte er. »Sie besorgt uns Lebensmittel und Medikamente für Zézettes Baby. Und sie hat sich für uns eingesetzt, als euer Priester, dieser Pfaffe mit dem Pokergesicht, wieder auftauchte.«
»Er ist nicht mein Priester«, unterbrach ich ihn. »In seinen Augen bin ich genauso ein Eindringling hier in Lansquenet wie Sie.« Roux sah mich verblüfft an. »Ich glaube, er sieht in mir einen verderblichen Einfluß auf die Gemeinde. Jede Nacht Schokoladenorgien. Fleischliche Exzesse, wenn anständige Leute längst brav im Bett liegen, und zwar allein.«
Seine Augen sind so verhangen wie der Regenhimmel über der Stadt. Wenn er lacht, funkeln sie schalkhaft. Anouk, die während seines Berichts ungewöhnlich still dagesessen hatte, ließ sich von seinem Lachen anstecken.
»Willst du denn nicht frühstücken?« krähte sie. »Wir haben pains au chocolat . Und Croissants. Aber die pains au chocolat sind besser.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Danke.«
Ich legte ein Schokocroissant auf einen Teller und stellte ihn neben seine Tasse.
»Gratis«, sagte ich. »Probieren Sie, ich mache sie selbst.«
Irgendwie hatte ich etwas Falsches gesagt. Ich sah, wie das Funkeln aus seinen Augen verschwand und sein Gesicht sich wieder verfinsterte.
»Ich kann bezahlen«, sagte er fast trotzig. »Ich habe Geld.« Er holte eine Handvoll Münzen aus seiner Hosentasche. Ein paar davon rollten über die Theke.
»Stecken Sie das weg«, sagte ich.
»Ich hab gesagt, ich kann bezahlen.« Seine einstudierte Gleichgültigkeit schlug in Unmut um. »Ich muß mir nicht –«
Ich legte meine Hand auf seine. Einen Augenblick lang spürte ich seinen Widerstand, bis unsere Blicke sich trafen.
»Niemand muß irgend etwas tun«, sagte ich freundlich.Ich begriff, daß ich mit meiner freundschaftlichen Geste seinen Stolz verletzt hatte. »Ich habe Sie eingeladen.« Er starrte mich unverändert feindselig an. »Ich habe jeden eingeladen, der zum erstenmal in meinen Laden kam«, fuhr ich fort. »Caro Clairmont. Guillaume Duplessis. Sogar Paul-Marie Muscat, den Mann, der Sie aus dem Café geworfen hat.« Ich machte eine kleine Pause, um meine Worte sinken zu lassen. »Wieso meinen Sie, meine Einladung ausschlagen zu können?«
Er senkte verlegen den Blick und murmelte etwas Unverständliches in seinen Bart. Dann schaute er mich an und lächelte.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte Sie mißverstanden.« Er zögerte unbeholfen, bevor er nach dem Croissant griff. »Aber nächstesmal lade ich Sie zu mir nach Hause ein«, sagte er in entschiedenem Ton. »Und falls Sie ablehnen, werde ich das als große Beleidigung auffassen.«
Von da an war das Eis gebrochen, und er wurde zusehends ungezwungener. Nachdem wir eine Weile über belanglose Dinge geplaudert hatten, begann er von sich zu erzählen. Ich erfuhr, daß Roux seit sechs Jahren mit dem Hausboot unterwegs war, anfangs allein, später hatte er sich seinen Gefährten angeschlossen. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher