Cholerabrunnen
älterer Herr, grau melierte Haare, tritt aus der Gasse zwischen Hotel und Schloss, bahnt sich mit ganz leichten Bewegungen seinen Weg durch die gaffenden Menschen, denen nun der Regen gar nichts mehr anzuhaben scheint, bückt sich, greift dem Liegenden an die Brust, dann an den Hals und sucht am Arm neben der einfachen Digitaluhr nach einem Puls… Demonstrativ schaut er dabei auf seinen silbern glänzenden Chronometer und scheint die Zeit zu stoppen, schüttelt dann den Kopf.
Niemand bemerkt, wie er nun beim sich unauffällig über den Untersuchten Beugen dessen Mantel durchsucht, etwas entnimmt, auch etwas dahinein steckt.
Er richtet sich wieder auf, schlägt den Kragen nach oben, geht den gleichen Weg zurück, den er eben kam. Niemand schaut ihm nach. Er schreitet aus. Fast scheint es, als gerate er mehr und mehr außer Puste. Trotzdem ist da ein Schmunzeln auf seinem Gesicht.
Der Regen stört ihn nicht. Schnell erreicht er den Neumarkt, hält auf eine der vielen Gaststätten zu, verschwindet im recht schmalen Zugang zum ‚Dresden 1900’, dem Restaurant mit einer echten Dresdner Straßenbahn im großen Gastraum unter der Glaskuppel.
Weiter hinten in einem Nebenraum sitzen die derzeit einzigen Gäste. Ungewöhnlich um diese Zeit. Das Wetter treibt die Touristen aus Dresden heraus. Der Grau Melierte schaut in deren Richtung, nickt, zieht den triefenden Mantel aus, greift in die Tasche, holt zwei noch nicht zu erkennende Dinge hervor und geht, nachdem er die ebenfalls nasse Mütze auf die Ablage neben den Garderobenhaken legte, zum besetzten Tisch, wo man erst jetzt Notiz von ihm nimmt, gar aufsteht und ihm die Hände schüttelt. Er wehrt ab, setzt sich und winkt dem jungen Kellner, der ihn zu kennen scheint, schon mit einem großen Pils kommt, die Karte geschickt unter der Achsel hervorzieht und ihm hinhält. Keinen Blick riskiert der Ankömmling, sagt ein paar Worte, kennt scheinbar seinen Geschmack und das hiesige Angebot zur Genüge. Der Kellner verschwindet.
„Und?“
Der Duft des kalten Bratenbrotes vor Rolf Mauersberger steigt allen in die Nase. Er streicht sich über die grau melierten Haare, nippt an seinem Bier. Sein Arzt verbot ihm den Alkohol. Er trinkt trotzdem. Was soll’s? Ist das Leben vorbei, können die ihn alle mal. Bis dahin macht er, was ihm einfällt. Wie eben draußen im Regen. Die anderen wollten nicht. Weil es regnet, weil man ja gesehen werden könnte, weil es gefährlich ist, weil man ein Stück laufen muss, weil es ihnen gegen den Strich geht, für ihren eigenen Frieden etwas tun zu müssen. Dabei sind sie bei einer Sache stets ganz schnell… beim Kassieren.
„Erledigt.“
Drei Augenpaare richten sich auf ihn und seine Hände, die eben preisgeben, was er vorhin aus dem Mantel nahm. Ja, denkt der. Erledigt. Und doch noch lange nicht vorbei. Erst muss der Dicke weg sein. Wenn sie sich dazu halten, schaffen sie auch das in den nächsten Tagen. Und trotzdem ist das nicht das Ende. Sie stecken mitten drinnen. Noch. Warum? Er weiß es nicht.
Günther Schnittge, der Honorarkonsul, wie sie ihn wegen seiner früheren Tätigkeit in München gern nennen, greift nach der Brieftasche und dem kleinen schwarzen Kasten mit dem unscheinbaren Knopf in der Mitte. Ja, nimm es, denkt Rolf. Ich will das nicht haben!
Blaulicht, rot-weiße Absperrbänder, Uniformen, soweit man nur blicken kann. Begängnis trotz schlechtem Wetter, viele Schirme sind unterwegs, die Menschen wollen etwas sehen, können aber nichts erkennen. Polizeiabsperrungen funktionieren nicht immer so gut. Heute schon.
Ein Bratwurstverkäufer wittert das Geschäft seines Lebens, brachte seinen mobilen Stand gar auf Touren und fährt nun hinter und zwischen den Schaulustigen hindurch. Warten und Schauen macht hungrig. Gegen die langsam einkehrende Kälte, bedingt durch immer weiter durchnässte Kleidung, helfen die eiligst von seiner Frau herzu gebrachten Glühweinvorräte, die noch vom letzten Winter übrig sind. Gleich steht die Hygieneinspektion hinter dem Mann. Er muss nachweisen, woher er all dies hat, ob die Verfallsdaten eingehalten wurden und trotz seiner sonst nicht üblichen Mobilität alle anderen Vorschriften gelten.
Er schnauft schon beim Anblick des Prüfers.
„Wein… der kann kippen, aber doch nicht einfach schlecht werden. Den kann ich auch noch in drei Jahren verkaufen!“
Der Prüfer grient ihn an, fand wohl eben eine Bratwurstverpackung mit Datum von gestern. Klaus, den alle hier kennen
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