Choral des Todes
Welche Widmung? Götz war kein Komponist.«
»Er war Chorleiter. Er dirigierte Werke. Such mal in dieser Richtung.«
Jeanson lehnte sich zurück und bewegte seine Zigarre wie den Taktstock eines Orchesterdirigenten:
»Nimm das Buch mit. Du musst es mir nur später zurückgeben. Lies es. Dann wirst du begreifen, was ich meine.«
Volokine steckte das Werk in seine Umhängetasche und blickte auf die Uhr. 19.30 Uhr. Er hatte eine Stunde für seinen Exkurs eingeplant – und die Stunde war nun vorbei. Er stand auf.
»Danke, Herr Professor.«
»Ich bringe dich zur Tür. Aber du musst mir etwas versprechen.«
»Was?«
»Wenn diese Geschichte vorbei ist, besuch mich wieder. Wir werden zusammen schreien.«
»Versprochen, Herr Professor. Aber geben Sie dann acht auf die Wände!«
Der alte Mann brachte den Polizisten zur Tür. Er murmelte:
»Weißt du, was Janov über die Neurosen gesagt hat?«
»Nein.«
»Die Neurose ist die Droge des Mannes, der keine Drogen nimmt.«
Volokine nickte stumm, während er seine Umhängetasche zurechtrückte. Er begriff den Satz nicht, aber er hätte etwas hinzufügen können, was ihn selbst betraf. Er hatte sich fürs Ganze entschieden: für die Drogen und für die Neurosen.
KAPITEL 46
Als sie sich um 20.00 Uhr trafen, verlangte Kasdan einen ausführlichen Bericht.
Sie waren an der Place Saint-Michel im Warmem, im Volvo-Kombi.
Der Russe packte aus. Er erzählte von der Anwältin, Geneviève Harova, die ihm über Götz’ rätselhaften Anruf berichtet hatte. Diese Verbrechen finden immer noch statt. Von seinen vergeblichen Bemühungen, die drei Chilenen, die am 3. März 1987 mit Wilhelm Götz in Frankreich gelandet waren, ausfindig zu machen.
»Wiederhole bitte, was du zuletzt gesagt hast.«
»Diese Typen sind in Frankreich gelandet und haben das Land nicht mehr verlassen. Dennoch sind sie unauffindbar. Wie vom Erdboden verschluckt.«
»Seltsam«, unterbrach ihn Kasdan. »Im Laufe dieser Ermittlungen hat jemand in anderer Hinsicht genau dieselben Worte benutzt. Ich weiß nur nicht mehr in welchem Zusammenhang …«
»Die Gebrechen des Alters.«
»Halt den Mund. Sonst noch was?«
Volokine hatte sich das Beste für den Schluss aufgehoben. Das Verschwinden des dreizehnjährigen Charles Bellon im Mai 1995. Ein Chorknabe der Kirche Saint-Augustin, wo Pater Olivier Priester war.
Kasdan stellte sich dumm:
»Und?«
»Vier Kinder sind verschwunden. Drei gehen auf das Konto von Götz, eins auf das Oliviers. Und ich bin überzeugt, dass es noch andere gibt. Chorleiter haben das Verschwinden der Kinder organisiert. Ein echtes Netzwerk.«
»Was glaubst du? Bist du immer noch überzeugt, dass es sich um Rache handelt?«
»Nein. Jetzt meine ich genau das Gegenteil. Der ›Menschenfresser‹ selbst ist am Werk. Ein sehr mächtiger Mann, der Engelsstimmen ›verzehrt‹ und der seine mordenden Kinder losschickt, um die von ihm selbst angeheuerten Schlepper aus dem Weg zu räumen. Er bringt unbequeme Zeugen zum Schweigen.«
»Gut, mein Schatz …«
Die Ironie war unüberhörbar. Volokine nahm es Kasdan nicht übel. Er wusste, dass seine Theorie sehr kühn war. Also fügte er nur noch hinzu:
»Ich bin mir meiner Sache sicher. Die Stimme ist der Schlüssel zur Lösung des Falles. Die Stimme der Kinder und deren Reinheit.«
»Ist das alles?«
»Nein.«
Volokine berichtete über sein Gespräch mit Bernard-Marie Jeanson. Er ließ einfließen, dass Wilhelm Götz möglicherweise sein Geheimnis in den Chorwerken, die er dirigierte, verborgen hatte.
»Ich werde dich nicht mehr allein lassen«, schlussfolgerte Kasdan. »Ein Wahnsinn jagt den anderen!«
»Und Sie?«
»Ich? Ich glaube, dass ich deinen Menschenfresser gefunden habe.«
Der Armenier erzählte die Geschichte von Hans-Werner Hartmann. Musikwissenschaftler. Hitleranhänger. Forscher. Spiritueller Guru. Foltermeister. Ein bewegtes Leben vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und der chilenischen Diktatur.
Volokine hätte sich keine glücklichere Fügung vorstellen können:
»Donnerwetter. Es passt ja alles zusammen.«
»Freu dich nicht zu früh. Es sind nur Fragmente, künstlich zusammengefügte Vermutungen. Konkret haben wir lediglich drei Morde ohne Verbindung untereinander, den Verdacht, dass die Täter Kinder sind, und einen fernen Guru, der seit langem tot ist.«
Volokine schwieg. Kasdan hatte immer noch nicht den Motor eingeschaltet. Durch die Windschutzscheibe betrachtete der Russe die Place Saint-Michel mit den
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