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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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blätterte die aufgeschnittenen Seiten um. An den Fingern blieben noch Fusseln hängen.
    »Ich bin mir nicht ganz sicher. Irgendetwas mit dem preußischen König?«
    » Musikalisches Opfer , das berühmte BWV 1079, wurde 1747 komponiert, als Bach in Leipzig lebte. In diesem Jahr lud Friedrich II . von Preußen den Musiker an seinen Hof und ließ ihn verschiedene Tasteninstrumente spielen. Friedrich II . war ein begeisterter Musikliebhaber, der stolz darauf war, dass er selbst musizierte und komponierte. Gleich am Abend von Bachs Ankunft legte der König ihm ein selbst komponiertes Thema vor und bat ihn, eine Fuge darüber zu improvisieren. Bach setzte sich ans Cembalo. Der Legende nach soll er ohne Unterlass gespielt haben. Wieder in Leipzig, hat er dann das Werk ausgearbeitet und niedergeschrieben. Es enthält Kanons, Fugen, eine Triosonate und zwei Ricercare .«
    Vage Erinnerungen wurden in Volokine wach:
    »Das Ricercare ist doch eine Art Fuge, nicht wahr?«
    »Ihre Vorform. Eine weniger streng ausgearbeitete kontrapunktische Komposition. In Frankreich nennt man sie Recherche . Man findet sie im Orgelrepertoire des Hochbarock.«
    Volokine dachte an Johann Sebastian Bach. Er hasste die Vokalmusik des deutschen Meisters wie die Pest, aber immer wenn sich die Gelegenheit bot, spielte er auf dem Klavier die Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers . Das Meisterwerk schlechthin. Ein Präludium und eine Fuge für jede Tonart. Und immer ein Schlussakkord in der Dur-Tonart. Weil ein Stück immer mit dem Licht Gottes enden muss …
    Jedes Mal, wenn er Bachs Werke ohne Pedal spielte, hatten seine Finger die reinste Freude. Musikalische Linien, die sich kreuzten, dann wieder entwirrten, sich ineinanderschlangen, dabei Motive hervorhoben, miteinander harmonierten und irgendetwas anderes oberhalb der Stimmen einflochten. Diese Kontrapunkte weckten in ihm die Erinnerung an seine Gefühle, an die Seelenzustände jeder Epoche seines Lebens. Die Fuge in D-Dur: seine erste Liebe. Das Präludium in B-Dur: sein erstes Kaninchen. Die Fuge in c-Moll: das Warten auf einen Anruf, der nie kam.
    »Cédric, du hörst mir nicht mehr zu.«
    »Wie bitte?«
    »Ich habe dir etwas über das Ricercare erzählt.«
    »Ja.«
    »Das Paradoxe daran ist, dass Bach in seinem Musikalischen Opfer extrem komplexe Werke Ricercare nennt, die nichts mit den gewöhnlichen Recherches zu tun haben. In Wirklichkeit benutzt er dieses Wort aus einem ganz bestimmten Grund.«
    »Weshalb?«
    »Ihm hat ein Akrostichon vorgeschwebt. Ein Satz, der durch das Aneinanderreihen des Anfangs der jeweils folgenden Sätze entsteht. Oder der erste Buchstabe jedes Wortes einer Wortfolge in einem Satz.«
    Volokine verstand nicht, worauf Jeanson hinauswollte.
    »Bach«, fuhr der Psychiater rasch fort, »hat in seiner Widmung an den König auf Lateinisch geschrieben: ›Regis Iussu Cantio Et Relique Canonica Arte Resoluta‹ , was bedeutet: ›Auf Geheiß des Königs, die Melodie und der Rest durch kanonische Kunst erfüllt‹. Ein Satz, der sich ergibt, wenn man den Anfangsbuchstaben jedes Wortes aneinanderreiht: R.I.C.E.R.C.A.R.E. Der Name des Werkes ist in der Widmung enthalten, verstehst du?«
    »Warum erzählen Sie mir das?«
    »Darüber schreibt Götz in seinem Buch. Und allgemeiner auch über alles, was sich in der Musik verstecken kann. Er hat weitere Akrostichen in Bachs Werken ausfindig gemacht. Rein musikalische. Zum Beispiel verwenden die Angelsachsen und die Deutschen die Buchstaben des Alphabets, um Musiknoten zu benennen. Eine Melodie kann also ein Wort bezeichnen. Bach selbst hat Kontrapunkte über den eigenen Namen geschrieben, deren Anfangsbuchstaben B.A.C.H. die gleichnamige Notenfolge ergeben.«
    »Entschuldigen Sie, bitte«, unterbrach ihn Volokine. »Ich sehe immer noch keinen Zusammenhang zwischen …«
    »Weißt du, warum Wilhelm Götz ermordet wurde?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, dass man ihn zum Schweigen hat bringen wollen.«
    »Hütete er also ein Geheimnis?«
    »Ja, ein gefährliches Geheimnis.«
    »Hast du es gelüftet?«
    »Nein. Er hatte Kontakt mit einer Anwältin aufgenommen, um es ihr anzuvertrauen. Aber je mehr ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass er sich absichern wollte und sein Geheimnis irgendwo sorgsam verwahrt hat.«
    »Dann sage ich es dir. Der Chilene hat seine Botschaft in der Musik versteckt. In den Noten einer Partitur. Oder in dem Titel eines Werkes. Oder in einer Widmung.«
    »Welches Werk?

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