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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bewusst werden. Stimme werden. Das ist der einzige ›Weg‹, um frei zu sein. Du, mein Junge, tätest gut daran, dich dieser Therapie zu unterziehen.«
    »Wir haben bereits darüber gesprochen.«
    Jeanson stieß eine Rauchwolke aus, die einer Dampflok würdig war:
    »Ich habe davon gesprochen. Du hast nichts gesagt.«
    »Herr Professor«, sagte Volokine lächelnd, »mir liegen so viele Dinge schwer im Magen. Würde ich sie aussprechen, würden meine Eingeweide hervortreten zusammen mit …«
    »Mit der totalen Katharsis.«
    »Oder dem sofortigen Tod.«
    »Willst du nicht das Risiko eingehen?«
    »Im Augenblick nicht.«
    »Das Verdrängen der Traumen führt unweigerlich zur Depression. Die menschliche Seele verhält sich genauso wie der Körper. Stoßen die natürlichen Abwehrkräfte einen Fremdkörper nicht ab, dann geht der Körper in Fäulnis über. Gangrän, Gewebsnekrose.«
    »Gut, dann warte ich auf die Amputation.«
    »Ich rede von deiner Psyche. Man kann sich ihrer nicht entledigen.«
    »Kehren wir zu den Chören zurück. Haben Sie darüber gearbeitet?«
    »Ja, zeitweilig. Ich habe sogar einige Bücher geschrieben.«
    »Verständliche Bücher?«
    »Nicht wirklich, nein. Aber ich habe mich mit diesem Thema befasst. Ich habe mich mit Chorleitern getroffen. Habe Konzerten und Proben beigewohnt … Was mich interessierte, war der Zusammenhang zwischen der Stimme und dem Glauben. Ursprünglich ließ die christliche Religion nur den Gesang zu. Die menschliche Stimme ist das bevorzugte Instrument, um Kontakt mit dem Allerhöchsten aufzunehmen. Das Wort ›Religion‹ kommt übrigens vom lateinischen religare , was ›wieder anbinden‹ bedeutet. Die Stimme steht im Mittelpunkt der Liturgie.«
    Plötzlich durchzuckte Volokine der Gedanke, dass Jeanson Wilhelm Götz begegnet sein könnte. Er fragte ihn auf gut Glück. Der alte Psychoanalytiker antwortete:
    »Ja, ich kenne ihn. Ein reizender Mann.« Erneut stieß er eine Rauchschwade aus, mit einem Zischen, als würde ein Ventil geöffnet. Die Luft war inzwischen unerträglich stickig. »Aber meines Erachtens nicht offen. Überhaupt nicht.«
    Dieser Zufall bestätigte Volokines Überzeugung: Man musste immer dem eigenen Instinkt folgen. Er runzelte die Stirn, um etwas älter zu wirken, und sagte dann:
    »Wilhelm Götz ist ermordet worden, und ich ermittle in diesem Fall.«
    Der Psychoanalytiker schwieg. Er war kaum sichtbar hinter seinem bläulichen Schutzwall. Dann fragte er mit heiserer Stimme:
    »Ein Sittlichkeitsverbrechen?«
    »Das habe ich anfangs vermutet. Inzwischen glaube ich, dass es um seine Arbeit als Chorleiter geht. Eine komplexe Angelegenheit, in der Religion, Strafe und menschliche Stimme eine Rolle spielen.«
    »Wusstest du, dass er ein Buch geschrieben hat?«
    »Nein.«
    Jeanson stand auf und ging zu den Bücherregalen. Von hinten wirkte er wie eine alte graue Wurzel, deren Stamm vom Blitz getroffen worden war und noch qualmte. Volokine triumphierte innerlich. Er hatte diesen Fachmann auf gut Glück aufgesucht und ins Schwarze getroffen.
    Der Psychiater legte ein kleines graues Buch auf den Schreibtisch – eines dieser Bücher, bei denen man die Seiten aufschneiden muss. Volokine nahm es und dachte zerknirscht, dass er die Wohnung des Organisten nachlässig durchsucht hatte. Gewiss besaß Götz mehrere Exemplare davon.
    In schwarzen Großbuchstaben stach ihm der Titel ins Auge:
    Ricercare,
DER VERBORGENE SINN EINEs OPFERs
    »Das Buch ist dem Musikalischen Opfer von Johann Sebastian Bach gewidmet. Kennst du dieses Werk?«
    »Ja. Erinnern Sie sich: Ich habe mal Klavier gespielt.«
    »Und bist auch Meister im Thai-Boxen gewesen. Das liebe ich an dir, Cédric. All diese Versprechen.«
    »Die nie eingehalten wurden, befürchte ich.«
    »Im Gegenteil. Du hattest die Wahl, und du hast deine Entscheidung getroffen. Du hast beschlossen, Polizist zu werden. Das ist der Sinn deines Lebens. Würde ich jetzt wie ein alter Psychiater reden, dann würde ich sogar sagen, dass diese Berufung dich gewählt hat.«
    Volokine betrachtete den Umschlag:
    »Haben Sie das Buch gelesen?«
    »Sicher. Da ist auch eine Widmung …«
    Der Russe blätterte die ersten Seiten um. Götz hatte in schräger, kraftvoller Schrift geschrieben:
    Für meinen lieben Bernard-Marie,
Der besser als jeder andere weiß:
Hinter jedem Wort steckt ein Opfer,
Hinter jedem Opfer steckt ein verborgener Sinn.
In Freundschaft
Wilhelm Götz
    »Kennst du die Geschichte vom Musikalischen Opfer ?«
    Volokine

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