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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Pole.«
    »Erzählen Sie mir von Ihren Forschungen.«
    »Nein. Sie würden nichts verstehen. Sie sind nicht reif dafür. Niemand ist reif dafür. Man muss einfach nur warten …«
    Wieder eine Pause.
    »In Auschwitz haben Sie Häftlinge leiden sehen. Dahinsiechen. Sterben. Zu Tausenden. Was haben Sie dabei empfunden?«
    »Die individuelle Ebene interessiert mich nicht.«
    Die Atemgeräusche und das Krächzen traten wieder in den Vordergrund.
    »Sie haben nichts verstanden«, fuhr Hartmann in schrillem Ton fort. »Sie glauben, heute die Schuldigen zu bestrafen. Aber die Nazis waren nur die tölpelhaften, unvollkommenen Werkzeuge einer höheren Macht.«
    »Hitler?«
    »Nein. Hitler war sich nicht bewusst, welche Kräfte er wachrief. Vielleicht wären wir mit anderen weitergekommen.«
    »Beim Genozid?«
    »Bei der unvermeidlichen natürlichen Auslese.«
    »Sie nennen diese Grausamkeit Auslese?«
    »Immer das Urteil. In Nürnberg haben Sie Ihre schwerfällige Maschinerie mit Ihren überholten Gesetzen und ihrem unzulänglichen Recht in Gang gesetzt. Wir befinden uns nicht mehr dort. Niemand und nichts wird die Rasse daran hindern, sich fortzuentwickeln. Wir …«
    Krach. Ein Schlag mit der Faust auf den Tisch. Jackson ließ seiner Wut freien Lauf:
    »Sind die Männer, die Frauen, die Kinder, die in den Lagern gestorben sind, für Sie nichts? Sind die Hunderttausende von Zivilisten, die in Osteuropa kaltblütig hingerichtet wurden, auch nichts?«
    »Sie haben eine romantische Sicht des Menschen. Sie glauben, dass man ihn wegen seiner Güte, seiner Großmut, seiner Intelligenz lieben und achten muss. Aber diese Sicht ist falsch. Der Mensch ist eine Missbildung. Eine Entartung der Natur. Die Wissenschaft darf nur ein Ziel haben: korrigieren, erziehen, reinigen. Das einzig anzustrebende Ziel ist der Neue Mensch.«
    Schweigen. Papierrascheln. Jackson versuchte sich wieder zu fassen.
    Er fing wieder an zu sprechen, diesmal wie ein Staatsanwalt:
    »Wir sind hier, um den Grad Ihrer Schuld an den Ereignissen festzustellen, die sich von 1940 bis 1944 in Europa zugetragen haben. Sie sagten mir, dass Sie Befehle befolgt haben?«
    »Nein. Es ging nicht um Befehle. Ich betrieb meine Forschungen, das ist alles.«
    »Glauben Sie, dass Sie sich so aus der Affäre ziehen können?«
    »Ich versuche nicht, mich aus der Affäre zu ziehen. Im Gegenteil. Andere nach mir werden meine Untersuchungen weiterführen. In fünfzig, hundert Jahren wird man vergessen haben, was sich zugetragen hat. Die Angst, das Trauma, das ewige ›Nie wieder!‹ werden ausgelöscht sein. Dann wird diese Kraft wiederauferstehen. Auf einer höheren Stufe.«
    »In Ihren Reden zitieren Sie die Worte Christi und des heiligen Franz von Assisi. Wie beurteilt Ihres Erachtens Gott die kriminelle Energie des Nationalsozialismus?«
    Ein seltsames Krächzen. Kaslan und Volokine sahen sich an. Im selben Augenblick errieten sie zweifellos beide: Dieses Nebengeräusch war Hartmanns Lachen. Ein kurzes, trockenes, schrilles Lachen.
    »Diese kriminelle Energie, wie Sie sagen, ist Gott selbst. Wir sind nur sein Werkzeug. All das hat an einem unvermeidlichen Fortschritt teil.«
    »Sie sind verrückt.«
    Wieder einmal war Jackson ein unbedachter Satz entschlüpft. Aus dem Mund eines Psychiaters hörte er sich merkwürdig an. Der Arzt schlug eine andere Richtung ein. Seine Verachtung war unverkennbar:
    »Woran erkennt man Ihrer Ansicht nach Leute wie Sie? Das heißt: Nazis?«
    »Ganz einfach. Unsere Kleidung stinkt nach verbranntem Fleisch.«
    »Wie bitte?«
    Erneutes Lachen. Eine der vielen Lachsalven.
    »Ich scherze. Nichts unterscheidet uns von den niederen Wesen. Oder vielmehr: Für Sie ist es unmöglich, diesen Unterschied festzustellen. Weil Sie uns eben von oben herab betrachten. Aus ihrer großen Menschlichkeit heraus, aus dem heraus, was Sie mit den anderen gemein zu haben glauben: ein Gefühl des Mitlieds, der Solidarität, der gegenseitigen Achtung. Wir haben solche Gefühle nicht. Sie würden unser Schicksal hemmen.«
    Jackson stieß einen Seufzer aus. An die Stelle der Verachtung trat nun Müdigkeit, Bestürzung und Wut.
    »Was soll man mit Leuten wie Ihnen machen? Was soll man mit den Deutschen tun?«
    »Es gibt eine einzige Lösung: uns alle beseitigen. Sie müssen uns ausrotten. Ansonsten werden wir immer an unserem Werk weiterarbeiten. Es ist uns eingegeben, verstehen Sie? Wir bergen in unserem Blut die Grundlagen für eine neue Rasse. Eine Rasse, die unsere

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