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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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auszuhaltender Schmerzensschrei, der den, der ihn hörte, zu zerreißen drohte. Er erzählte auch, dass manche Patienten sich nach diesem Schrei, in Tränen aufgelöst, am Boden zusammengerollt hätten und nur noch imstande waren, wie Babys zu lallen.
    Der Polizist betrat den düsteren Raum und hatte wie immer den Eindruck, in einen menschlichen Schlund zu gleiten.
    »Bist du sicher, dass du keine therapeutische Sitzung haben willst?«
    »Nein, Herr Professor. Heute nicht, tut mir leid. Ich muss mit Ihnen über ein etwas ungewöhnliches Thema sprechen.«
    Sie kannten sich seit drei Jahren, und immer wieder bekniete Jeanson den Polizisten, selbst die Urschreitherapie auszuprobieren. Nach Ansicht des Professors hatte der junge Russe »dringenden Bedarf«. Volokine bezweifelte das nicht, und doch sperrte er sich dagegen. Bei dem Gedanken, sein Inneres ins Wanken zu bringen, geriet er in Panik. Auch wenn seine Fundamente morsch waren, auch wenn sein psychisches Gleichgewicht vom Wechsel zwischen Trips und vergeblichen Versuchen, davon loszukommen, bestimmt war, auch wenn er es bei diesem Rhythmus nicht lange aushalten würde, wollte er an nichts rühren. Alles war besser, als die Vergangenheit und das verdrängte Geburtstrauma wiederzuerleben. Diese Grauzone, die ihn umtrieb.
    »Dann setz dich hin und erklär mir, worum es geht.«
    Volokine ließ sich Zeit. Er mochte diesen Ort. Diesen kleinen Raum mit dunklem Parkettboden und weißen Wänden, mit einem winzigen Kamin und Bücherregalen mit psychoanalytischen und philosophischen Werken. Ein Schreibtisch, dessen Lack an mehreren Stellen aufgesprungen war, zwei Sessel mit abgewetzten Armlehnen und eine Liege – die berühmte »Couch« für die psychoanalytischen Sitzungen – vervollständigten die Einrichtung.
    Jeanson zog eine Schublade auf und nahm eine Zigarre heraus – eine Montecristo:
    »Stört dich das?«
    Volokine schüttelte den Kopf. Er kannte das Ritual. Der Stahlrohrstuhl war das einzige Zugeständnis des Professors an Heiligabend.
    »Also«, fragte Jeanson mit seiner sanften Stimme, während er das Kopfende der Zigarre anschnitt, »was willst du?«
    »Ich bin hier, um über Chöre zu sprechen. Knabenchöre.«
    »Die Engelsstimmen. Die höchste Reinheit.«
    »Genau. Was können Sie mir über diese Stimmen sagen? Über diese Reinheit?«
    Jeanson antwortete nicht. Er zündete seine Montecristo an und fachte bei jedem Zug die Glut an. Die Zigarre sah aus wie die Flamme eines Erdölfeldes.
    Der Psychiater lehnte den Kopf nach hinten, und eine dichte Wolke hüllte ihn ein. Schwerer, langsam aufsteigender Rauch. Wie blaue Farbe, die sich in Wasser auflöste.
    »Es ist sehr einfach«, sagte er leise. »Die Stimmlage der Kinder ist rein, weil ihr Geist rein ist. Ich vereinfache, sicher. Die Psyche der Kinder ist nicht reiner als die der Erwachsenen, aber die Begierde ist in ihrer bewussten, sexuellen Ausprägung noch nicht geweckt. Darum sind die Kinder Engel. Geschlechtslose Engel. Dann ändert sich alles. Das Kind entdeckt die sinnliche Begierde. Seine Stimme wird tiefer. Seine Seele geht irgendwie unter …«
    Régis Mazoyer, der Automechaniker, hatte dasselbe mit eigenen Worten gesagt.
    »Gibt es eine physiologische Erklärung für dieses Phänomen?«
    »Sicher. In der Pubertät wird verstärkt Testosteron, das männliche Hormon, ausgeschüttet. Die Stimmbänder verlängern sich. Der Kehlkopf vergrößert sich. Entsprechend den Regeln der Akustik vibrieren die Stimmbänder infolge der Dehnung langsamer und bringen folglich dunklere Laute hervor. Stell dir eine Geige vor, die sich in ein Cello verwandelt.« Er sah Volo lächelnd an. »Man könnte sagen, dass die Begierde sich die Stimme ›angelt‹. Die Geschlechtsreife verwandelt den Engel in ein einfaches menschliches Wesen.«
    Vor Volos geistigem Auge tauchte Régis Mazoyer auf, der Automechaniker mit den Filzhandschuhen. Ein Engel, der untergegangen war. Ein Mann, der ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.
    Jeanson fuhr fort:
    »Allgemeiner ausgedrückt, übersetzt die Stimme unseren Körper. Und unsere Seele. Sie ist ein Gefäß, verstehst du? Darum steht sie im Mittelpunkt der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Arbeit besteht darin, alte, verdrängte Traumen aufzudecken. Aber das reicht nicht aus. Damit sich der Geist erleichtert fühlt, muss man das Trauma ›aussprechen‹. Die Stimme hat eine kathartische Wirkung, Cédric. Sie ist das ›Große Fahrzeug‹, wie es im Buddhismus heißt. Sich

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