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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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beiden Drachenstatuen. Menschenleer. Die Pariser hatten sich in ihren glitzernden, warmen Wohnungen verschanzt. Weihnachten spielte sich hinter verschlossenen Türen ab.
    »Was schlägst du vor?«, fragte schließlich der Armenier.
    »Wir graben in Götz’ Vergangenheit. Wir überprüfen die Chormusik, die er in den letzten Jahren dirigiert hat. Wir reihen jeweils die ersten Buchstaben aneinander und sehen, was dabei herauskommt.«
    »Das scheint mir etwas nebulös zu sein.«
    »Haben Sie einen besseren Vorschlag für Weihnachten?«
    »Ja. Und das lässt sich gut mit deinen Nachforschungen vereinbaren.« Er drehte den Zündschlüssel. »Wir fahren hin.«
    Der Volvo machte einen Satz. Fuhr um den Platz herum, dann die Rue Danton und die Rue Monsieur-le-Prince hinauf in Richtung Boulevard Saint-Michel. Die beiden Männer sprachen kein Wort. Der Russe spürte es regelrecht: In diesem Augenblick hatten sie dieselbe Empfindung. Jagdfieber. Geteilte Einsamkeit. Zum Teufel mit dem Weihnachtsessen.
    Place Denfert-Rochereau. Avenue du Général Leclerc.
    Kasdan machte eine große Schleife, um auf die Straße zu kommen, auf der das Linksabbiegen erlaubt war. Volokine dachte bei sich: »Dieser Kerl verhält sich streng nach den Buchstaben des Gesetzes.« In seinem Sitz eingesunken betrachtete er die Avenue René Coty. Sie strahlte die friedliche Ruhe eines erleuchteten Dampfers aus, der auf dem dunklen Wasser dahinglitt. Künstlerateliers. Rote Backsteinschulen. Die Bäume auf dem Mittelstreifen, die einen erhabenen Anblick boten wie eine Allee, die zu einem Schloss führt.
    Das Schloss war der Park Montsouris. Kasdan bog nach links ab. Fuhr die Avenue Reille hinunter. Die ruhige, dunkle Rue Gazan schien sie zu erwarten.
    Universalschlüssel. Treppe. Versiegelung. Sie drangen in die Wohnung des Chilenen ein, als seien sie bei sich zu Hause. Der PC stand immer noch da. Die Polizei hatte es anscheinend nicht eilig, ihn mitzunehmen. Das Weihnachtsfest hatte wohl ihren Eifer gelähmt.
    Sie schlossen die Tür wieder zu. Gingen in den Musiksalon. Verriegelten die Rollläden und schalteten das Licht an. Sofort vertiefte sich Volokine in Götz’ Partituren. Er durchsuchte das Archiv des Organisten und wählte die Chorwerke aus, die er Weihnachten 2006 dirigieren sollte.
    Vier unterschiedliche Stücke für vier Chöre. Das Ave Maria von Schubert für die Kirche Saint-Jean-Baptiste. Ein Fragment des Requiems von Tomas Luis de Victoria für Notre-Dame-du-Rosaire. Ein Auszug aus dem Oratorium Jeanne d’Arc au bûcher von Arthur Honegger für Saint-Thomas-d’Aquin. Ein weiteres Requiem , diesmal von Gilles, einem Komponisten des 17. Jahrhunderts, für Notre-Dame-de-Lorette.
    Volokine holte sein Notizheft hervor und schrieb die Titel in Großbuchstaben auf: » Ave Maria «, » Requiem «, » Oratorio «, » Requiem «. Die Anfangsbuchstaben A. R. O. R. ergaben keinen Sinn. Der Russe versuchte, sie anders anzuordnen: ARRO . Dann wieder anders: ROAR . Kein Sinn. Noch eine blöde Idee also.
    Er wandte den Kopf, um nach Kasdan zu schauen. Der Armenier saß am Boden und lauschte mit Kopfhörern irgendwelcher Musik. Das Licht der Aussteuerungsanzeige des Verstärkers erhellte sein Gesicht. Er sah wie ein alter Stasi-Spion aus, der eine Zielperson abhörte.
    »Was zum Teufel machen Sie da?«
    Kasdan drückte auf den Pausenknopf des CD -Players:
    »Der Typ, den ich heute Nachmittag getroffen habe, der israelische Forscher, hat mir ein Tondokument mitgegeben. Die Vernehmung von Hans-Werner Hartmann, die in Berlin von einem amerikanischen Psychiater im Jahre 1947 durchgeführt wurde. Sehr aufschlussreich. Und zugleich erschreckend.«
    »Darf ich auch mal reinhören? Dieser Schwachsinn mit den Anfangsbuchstaben bringt uns nicht weiter.«

KAPITEL 47
    Mit Handschuhen betätigte Kasdan die Knöpfe der Anlage und legte dann die Kopfhörer ab. Er drückte auf PLAY . Die Aufzeichnung wurde wieder von vorne abgespielt. Plötzlich war ein Atemgeräusch zu vernehmen, dann ein Räuspern. Der Kontrast zwischen Götz’ modernem Aufnahmegerät und diesen althergebrachten Geräuschen war frappierend.
    Eine ernste Stimme sagte auf Englisch:
    »Dr. Robert W. Jackson, 12. Oktober 1947. Verhör von Hans-Werner Hartmann, vernommen am 7. Oktober 1947 in der Nähe des U-Bahnhofs Onkel Toms Hütte.«
    Stuhlgeräusche und Papierrascheln. Dann ertönte wieder die Stimme des Psychiaters. Diesmal wandte er sich an den Vernommenen und stellte die üblichen Fragen.

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