Choral des Todes
Personalien. Geburtsort. Adresse. Beruf.
Nach langem Schweigen antwortete Hartmann auf Englisch. Eine merkwürdige Stimme. Schrill, näselnd, abgehackt. Der Mann sprach schnell, als habe er es eilig, zum Ende zu kommen. Ein neuer Kontrast. Die bedächtige, dunkle Stimme des Psychiaters. Die nervöse, hohe, fast unmännliche Stimme Hartmanns. Aufgrund seines deutschen Akzents klang seine Aussprache besonders scharf.
Der Psychiater:
»Mir liegen hier einige Notizen über Sätze vor, die Sie auf den Straßen von Berlin geäußert haben. Einige Ihrer Aussagen überraschen. Sie haben beispielsweise erklärt, dass die Deutschen zu Recht die Niederlage einstecken mussten. Was meinen Sie damit?«
Kurzes Schweigen, als würde ein Maschinengewehr geladen, dann wie aus der Pistole geschossen:
»Wir sind Pioniere. Wegbereiter. Kein Wunder, dass wir geopfert werden.«
»Pioniere wofür?«
»Die Kriegsjahre waren nur der erste Schritt in Richtung eines logischen und notwendigen Fortschritts.«
»Fortschritt? Die Ausrottung Hunderttausender von Opfern?«
Ein dumpfes Geräusch. Vielleicht das Abstellen eines Wasserglases. Während Volokine zuhörte, nahm er die Blätter in die Hand, die der Israeli Kasdan gegeben hatte. Darunter ein Porträtfoto von Hartmann. Ein grauenerregendes Gesicht. Schwarze, tief liegende Augen, hohe, vorstehende Wangenknochen, dichtes Haar. Dieser Totenkopf passte zu der schrillen, gellenden Stimme.
»Sie gehen in die falsche Richtung, Herr Jakobson.«
»Ich heiße Jackson.«
»Sind Sie sicher?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich dachte, Sie seien Jude.«
»Warum?«
Hartmann stieß ein leichtes Lachen aus und zischte dabei wie eine Schlange.
»Ich weiß nicht. Ihr Gang, ihre Haltung … Ich habe ein Gespür dafür.«
»Sie wollen damit sagen, dass Sie die Juden ›spüren‹?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Antisemit. Solange die Juden an ihrem Platz bleiben, solange sie nicht unsere Nachkommenschaft verunreinigen, stören sie mich nicht.«
»Und in den Gasöfen stören sie Sie auch nicht?«
Dieser Satz war dem Psychiater entschlüpft. Zwischen den krächzenden Nebengeräuschen konnte man seine Abneigung deutlich spüren. Nach kurzem Schweigen antwortete der Deutsche:
»Sie verlieren die Beherrschung, Jakobson. Entschuldigung … Jackson.«
Erneutes Schweigen. Der Psychiater fuhr in eisigem Ton fort:
»Sie sagten, dass ich in die falsche Richtung gehe.«
»Man muss an das Projekt denken. Wir haben ein Werk begonnen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
»Was ist das, was Sie ›das Werk‹ nennen? Der Massenmord an den besiegten Völkern? Das Genozid, der als Militärstrategie hingestellt wurde?«
»Sie bewegen sich an der Oberfläche der Dinge. Der wahre Plan ist wissenschaftlicher Art.«
»Wie sieht dieser Plan aus?«
»In den paar Jahren, in denen wir ernsthaft arbeiten konnten, haben wir uns eingehend mit den elementaren Mechanismen des Menschen befasst. Und wir haben angefangen, sie zu korrigieren. Wir haben alles Nutzlose ausgeschaltet. Wir haben die nützlichen Kräfte vervollkommnet.«
»Die nützlichen Kräfte – sind das die des Dritten Reichs?«
»Schon wieder der Krieg … Ich spreche vom menschlichen Geschlecht, von der unumgänglichen Evolution unserer Rasse. Die deutsche Nation ist den anderen biologisch überlegen, das stimmt. Aber diese Überlegenheit ist nur der Auslöser des Fortschritts. Die Anlagen sind vorhanden. Man muss sie nur ausbilden.«
»So spricht kein Besiegter.«
»Das deutsche Volk kann nicht besiegt werden.«
»Sie halten sich also für unbesiegbar?«
»Nein, nicht die Menschen. Unsere Seele jedoch ja. Sie wollen uns bekämpfen, aber Sie kennen uns nicht. Der Deutsche akzeptiert nie einen Irrtum. Noch weniger einen Fehler. Und niemals fügt sich der Deutsche in eine Niederlage. Was auch immer geschieht, er folgt seinem schicksalhaften Weg. In der Sprache Wagners. Mit dem Blick auf Siegfrieds Schwert.«
Papierrascheln. Husten. Jacksons offenkundiges Unbehagen.
»Ich sehe hier, dass Sie sich erst im Lager Theresienstadt und dann in Auschwitz aufgehalten haben. Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich habe dort studiert.«
»Was haben Sie dort studiert?«
»Die Musik. Die Stimmen.«
»Bitte genauer.«
»Ich habe die musikalische Tätigkeit überwacht. Orchester, Blaskapelle, Gesang … In Wirklichkeit habe ich aber die Stimmen studiert. Die Stimmen und das Leiden. Die Übereinstimmung dieser beiden
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