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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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manchmal auch nachts nicht sehen. Die Geburtenrate wurde streng kontrolliert. Auf den Feldern und in den Minen durfte man nicht sprechen, pfeifen oder lachen. Wächter mit Hunden beaufsichtigten uns. Wenn ich alle Regeln und Beschränkungen aufzählen sollte, wären wir morgen noch hier …«
    »Nenn uns ein paar weitere Vorschriften …«
    »Hartmann hielt die moderne Zivilisation für dekadent. Gewisse Materialien wie Kunststoff, nichtrostender Stahl oder Nylon durften wir nicht berühren. Auch bestimmte Lebensmittel und Getränke wie Coca-Cola durften wir nicht konsumieren. Schließlich waren uns Gesten wie der Handschlag untersagt. Solche Kontakte galten als beschmutzend. Hartmann strebte eine Gemeinschaft an, die nach strengsten moralischen Regeln leben sollte.«
    »Waren auch moderne Maschinen verboten?«
    »Nein, Hartmann war kein Dummkopf. Die Nutzung von Strom und Traktoren, das alles war erlaubt. Der Deutsche musste ein großes landwirtschaftliches Anwesen in Betrieb halten, und er wusste, wie man das macht. Tatsächlich gab es zwei Zonen. Die ›weiße‹ Zone ohne Strom und ohne Schadstoffe, in der die Kinder aufwuchsen. Und die mit Strom versorgte Zone, in der das Krankenhaus, der Speisesaal und alle Felder und Weiden lagen.«
    »Offenbar ein ganz ähnlicher Lebensstil wie bei den Amish?«
    »Mitte der achtziger Jahre wagte es ein Journalist von La Nación , einen Artikel über la Comunidad zu schreiben. Er gab ihm den Titel Die Amish des Bösen . Die Bezeichnung wurde später von dem deutschen Magazin Stern übernommen. Nicht schlecht getroffen. Abgesehen davon, dass Hartmann keiner bestimmten Doktrin folgte. Er praktizierte eine Art Synkretismus, der auf einer sehr strengen christlichen Lehre basierte, in die Elemente des Anabaptismus, des Methodismus und sogar des Buddhismus einflossen. Ich glaube, er hatte eine Reise nach Tibet gemacht …«
    »Wann wurdest du in die eigentliche Sekte aufgenommen?«
    »Sehr bald. Wegen meiner Stimme. Ich war ein Gesangstalent. Das schien eine Chance zu sein, war aber in Wirklichkeit keine. Es war sogar richtig gefährlich.«
    »Gefährlich?«
    »In der Welt Hartmanns musste man für falsche Töne schwer büßen.«
    »Wer leitete den Chor? Wilhelm Götz?«
    »Zu dieser Zeit ja. Später kamen andere …«
    »Hat er euch bestraft?«
    »Manchmal. Aber Götz war eher ein gutmütiger Mensch. Es gab Aufseher, die einen verdroschen.«
    »Wie habt ihr gelebt, abgesehen von der Arbeit auf den Feldern und den Chorproben?«
    »In der Gemeinschaft. Wir haben zusammen gegessen, zusammen gearbeitet, in einem großen Schlafsaal zusammen geschlafen. Es gab keine Familie im traditionellen Sinne. Hartmann setzte das Gebot um, das Gott Abraham gab: ›Trenne dich von deinem Land und deiner Familie.‹ Unser einziges Zuhause war die Kolonie. Und man fand dort sogar eine gewisse Wärme. Später wurden die Dinge etwas komplizierter.«
    »Später?«
    »In der Pubertät. Als wir unsere Engelsstimme verloren, begann die Zeit der Agoge.«
    Das Wort weckte in Volokine eine vage Erinnerung.
    »Was ist das?«, fragte er.
    »Ein griechisches Wort, das den Brauch der strengen Erziehung im antiken Sparta bezeichnet. Damals mussten alle Knaben ab einem gewissen Alter ihr Elternhaus verlassen und wurden in den Kriegskünsten unterrichtet. Das Gleiche geschah in der Kolonie. Nahkampf, Handhabung von Waffen, Ausdauertraining. Und natürlich Strafen …«
    »Hattet ihr Feuerwaffen?«
    »Die Kolonie besaß ein Arsenal. Sie war wie eine Festung gestaltet. Niemand konnte sich ihr nähern. Im Lauf der Jahre habe ich immer die neuesten Sicherheitstechniken gesehen. Hartmann war paranoid. Er rechnete ständig mit einem Angriff. Ganz abgesehen von der Apokalypse, die er uns jeden Abend und jeden Morgen in Aussicht stellte. Der reinste Irrsinn.«
    Der Russe dachte an das Martyrium dieser verlorenen, bestraften Kinder, die in einer Welt lebten, wo die Wahnideen eines einzigen Mannes Gesetzeskraft hatten. Allein die Vorstellung machte ihn krank. Immer das Gleiche. Der Gedanke, dass Kindern ein Leid angetan wurde, brachte eine geheime Saite in ihm zum Klingen, berührte einen sensiblen Punkt, dem er nicht auf den Grund gehen wollte.
    »Erzähl uns von den Strafen.«
    »Mein Freund, das ist nichts für empfindsame Gemüter.«
    »Mach dir keine Sorgen um uns. Erzähl schon.«
    »Nicht heute. Verderben wir uns nicht diese schöne Weihnachtsnacht.«
    »Wir haben gesehen, was in deinem Klub so abgeht. Nicht schlecht als

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