Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Händen hinter dem Rücken an Wasserrohre angekettet war. Sie hatte einen Knebelball im Mund. Kasdan blieb stehen. Ihre Haare und ihre Augenbrauen waren farblos wie bei einem Albino. Kasdan trat näher heran, um ein Detail zu überprüfen. Ihre Augen waren verschiedenfarbig. Das eine hell, das andere dunkel. Kasdan dachte an den Rocksänger, der ihn faszinierte: Marilyn Manson. Er schlug die Augen nieder. Eines der Beine der Frau war in einen orthopädischen Apparat aus Metall eingesperrt, der die Muskeln so stark quetschte, dass sie bluteten. Er vermutete, dass sich der Apparat immer weiter zusammenzog und dadurch die Schmerzen ständig zunahmen.
    Volokine zog ihn an der Jacke. Sie gingen weiter, vorbei an Kleenex- und Kondom-Spendern. Eine andere Szene in einem Alkoven zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Kreaturen in eng anliegenden schwarzen Anzügen bewegten sich langsam wie Katzen in Latex, ein ununterscheidbares Gemenge schillernder Gliedmaßen. Die beiden Schattengestalten trugen Ledermasken. Man konnte nicht sagen, was für ein Geschlecht sie hatten. Als Kasdan genauer hinsah, erkannte er, dass eine der Silhouetten in hockender Stellung von der Decke hing, mit ausgebreiteten Armen und gegrätschten Beinen, während die andere sich in einer konzentrierten Haltung zwischen die Oberschenkel der ersten Gestalt beugte.
    Plötzlich wich der gebückte Schatten zurück und reckte seine blutige Faust in die Höhe. Die Geste war so brutal, dass die beiden Partner gleichzeitig zurückwichen, als wäre aus dem Körper desjenigen, der sich in seinen Ketten aufbäumte und wand, ein Teufel entsprungen. Er stöhnte so laut, dass Kasdan befürchtete, er könne unter seiner Ledermaske ersticken. Aber der Armenier riss sich zusammen: Hier war man über so etwas hinaus.
    »Ganz schön gesalzen heute Abend«, murmelte Volokine.
    Der Türsteher im Zweireiher stapfte seelenruhig weiter, als würde er sie durch ein Loire-Schloss führen. Ein Gang mit Wänden aus Nacktbeton, an denen Röhren entlangliefen, Armierungseisen. Der Eigentümer des Lokals hatte eine Höhle nachgebaut, aber es roch hier weder nach Schimmel noch nach Staub. In diesem Schlauch schwebte ein starker Moschusgeruch, vermischt mit dem Gestank menschlicher Exkremente. Kasdan dachte unwillkürlich: »Mit all diesen Ärschen, die sich auslüften …« Hinzu kam ein ganz leichter Geruch nach Chlorreiniger.
    Ihr Führer wandte sich nach rechts in einen weiteren Gang. Die rote Beleuchtung wich hier einem sanften Dämmerlicht. Weitere Nischen – Kasdan sah nicht mehr hin. Dieser Saustall beeinträchtigte seine Konzentrationsfähigkeit – und er musste in Hochform sein, um Milosz gegenüberzutreten.
    Das Klirren von Ketten. Unwillkürlich drehte er sich um. Linker Hand öffnete sich ein abgeteilter Raum, der so groß war wie eine Garage. Statt eines Autos lag eine große Matratze auf dem Boden. Darauf zwei angekettete Nackte mit Schuhen an den Füßen, die es sich gegenseitig in der 69-er Stellung besorgten – ein fast schon banales Liebesspiel an einem Ort wie diesem. Aber die Szene ließ im Dunkeln Schlimmeres vermuten. Kasdan spähte in die Finsternis. Im hinteren Teil des Raumes kauerte eine Frau. Mit gerafftem Rock urinierte sie sanft, während sie das Liebesspiel des Paares beobachtete.
    Er hörte das sanfte Plätschern des sich auf dem Boden ausbreitenden Harns, das sich mit dem Klirren der Ketten vermischte. Die auf den Fersen kauernde Frau war kreidebleich. Ihre Augen traten aus den Höhlen, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Sie zuckte im Rhythmus der Liebenden auf der Matratze. Erst glaubte der Armenier, sie befriedige sich selbst, aber als er ihren weißen Bauch sah, verstand er. Die Hand zwischen den Oberschenkeln vergraben, schnitt sie sich ruckartig mit einer Rasierklinge in die Scham, wie um einen Juckreiz zu stillen. Im Halbdunkel glaubte er zu sehen, wie sich die Harnpfütze mit schwarzem Blut färbte.
    Kasdan fühlte sich völlig überfordert. Und gleichzeitig kamen ihm diese perversen Praktiken auf merkwürdige Art vertraut vor. Seitdem er im Ruhestand war, hatte sich nichts verändert. Der Mensch war noch immer durch und durch verkommen. Und es war der vermeintlich normale Durchschnittsbürger. Wie zur Bestätigung begegnete er in diesem Gang, auf dem gebrauchte Kleenex herumlagen, gewöhnlichen Menschen in Zivilkleidung – Voyeuren oder Schaulustigen mit Taschenlampen, die sich überaus lebhaft für alles interessierten, was sich hier

Weitere Kostenlose Bücher