Choral des Todes
aufgelöst. Asunción existiert noch immer.«
»Wo?«
»Man hat von Paraguay gesprochen, von den Jungferninseln, von Kanada. Aber meines Erachtens ist die verrückteste Hypothese die richtige.«
»Welche Hypothese?«
»Hartmann und seine Clique haben sich in Europa niedergelassen. Genauer gesagt in Frankreich. Schließlich ist euer reizendes Land doch ein Hort der Toleranz, oder nicht?«
Volokine warf Kasdan einen Blick zu: Er las darin die gleiche Verblüffung, die er selbst empfand. Das würde mit einem Schlag zahlreiche Aspekte des Falles erhellen.
»Was weißt du über diese Ansiedlung?«
»Nichts. Und ich will auch nichts damit zu tun haben. Aber der Gedanke ist nicht abwegig. Hunderte von Sekten sind in Frankreich entstanden. Wieso nicht die Kolonie?«
»Wer könnte ihr Anführer sein?«
»Der König ist tot, es lebe der König! Der Geist Hartmanns lebt weiter. Unter seinen ›Ministern‹ muss es jemanden geben, der seine Nachfolge angetreten hat.«
Volokine dachte nach. Eine Sekte, die auf dem Glauben an das Böse und dem Prinzip der Strafe errichtet worden war. Eine Gemeinschaft, die Kinder folterte und ihr Zusammenleben nach unsäglichen Regeln gestaltete. Beim Jugendschutzdezernat hätte er davon hören müssen.
Ein heftiger Brechreiz unterbrach seine Gedanken. Er spürte eine so starke Übelkeit, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Seine Muskeln waren wie gelähmt. Seine Brust wie von Zwingen eingequetscht, sodass er das Gefühl hatte, gleich würden seine Knochen zertrümmert. Entzugserscheinungen? Er wollte nur noch eins: die Befragung so schnell wie möglich beenden.
»Kannst du uns nicht irgendeinen Tipp geben, wie wir der Kolonie auf die Spur kommen?«, hakte Kasdan nach.
»Nein. Und ihr werdet auch keine Spuren finden. Wenn sich die Sekte in Frankreich niedergelassen hat, dann ist sie unsichtbar.«
Volokine schlurfte Richtung Tür: Er musste den Raum verlassen. Kasdan schien zu begreifen. Er machte einen Schritt nach vorn und provozierte den Hünen:
»Du hast immer noch Angst vor ihnen, wie?«
»Angst? Milosz kennt keine Angst. Man kann ihm nicht mehr wehtun. Unmöglich.«
Der SM -Meister stützte sich auf eine der Armlehnen des Throns, was abermals ein klirrendes Geräusch erzeugte.
Während Volokine langsam zurückwich, verfolgte er das, was sich vor seinen Augen zutrug, wie durch einen dunklen Schleier.
»Glaubt ihr vielleicht, meine Ausbildung wäre spurlos an mir vorübergegangen? Das Böse ist noch immer in mir, Freunde. Aber ich bin immun dagegen.«
Volokine erreichte die Tür. Er spürte, dass eine Explosion, ein unheilvolle Wendung drohte.
»Milosz hat keine Angst vor dem Bösen. Milosz ist das Böse.«
Mit einer Handbewegung öffnete er seinen schwarzen Umhang. Sein fetter, nackter Oberkörper war übersät mit altmodischen Schröpfköpfen. Glaskugeln, die seine Haut ansaugten und jeweils ein albtraumhaftes Untier beherbergten: einen Blutegel, einen Skorpion, eine Vogelspinne, eine Hornisse … Eine Schar von Quälgeistern, die dem Höllenschlund entstiegen zu sein schienen und seinen geröteten, blutbefleckten Leib verzehrten.
KAPITEL 54
»Hallo?«
»Hier ist Volokine.«
»Wer?«
»Cédric Volokine.«
Das Telefon hatte zwölfmal geläutet, bevor abgehoben wurde. Um vier Uhr früh war das nicht weiter verwunderlich. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war wie in Dunkelheit und Schläfrigkeit gehüllt.
»Mist …«, fuhr die Stimme endlich fort. »Geht’s noch? Weißt du, wie spät es ist?«
»Ich bin da an einer Sache dran.«
»Was hab ich damit am Hut?«
»Ich muss mit dir sprechen.«
»Worüber, verdammt?«
»Sekten in Frankreich.«
»Das hat doch wohl bis morgen Zeit, oder?«
»Es ist morgen.«
Wieder eine Pause. Volokine warf Kasdan einen Blick zu, als stünde er kurz davor, einen Tresor zu knacken.
»Wo bist du?«
»Wir sind vor deinem Haus.«
»Ich glaub’s nicht.«
Das war der Augenblick, ihm den Todesstoß zu versetzen.
»Du bist mir was schuldig, Michel. Vergiss das nicht.«
Der Mann stieß ein tiefes Seufzen aus und brummte dann:
»Ich mach euch auf. Aber seid leise. Hier schlafen alle.«
Volokine schaltete Kasdans Handy aus, das er auf laut gestellt hatte. Er wollte gerade aussteigen, als der Armenier sagte:
»Warte. Ich würde gern wissen, wo ich dran bin. Wer ist dieser Typ?«
»Michel Dalhambro. Ein Typ vom Inlandsgeheimdienst RG . Er war Mitglied der Studiengruppe, die in den neunziger Jahren eine
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