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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Einführung …«
    »Mein Klub ist ein Puppentheater. Ich spreche jetzt von echten Schmerzen.«
    »Was ist der Unterschied?«
    »Die Angst. Hier tut jeder so als ob. Jeder weiß, dass er nur die Hand zu heben braucht, und schon ist das Spiel aus. Echte Qual beginnt, wenn der Wille desjenigen, der dich foltert, die einzige Schranke ist. Da kann man von echtem Leid sprechen.«
    »Hast du das dort erlebt?«
    »Das haben wir in der Kolonie alle erlebt.«
    Volokine bohrte nicht weiter nach. Er nahm eine Abkürzung:
    »Aus welchen Gründen wurde man bestraft?«
    »Bei Fehlverhalten, aber nicht nur. Auch wenn man nichts ausgefressen hatte, konnte man misshandelt werden. Aus heiterem Himmel, mitten im Schlaf, jederzeit. Manchmal tauchte Hartmann auf, wenn wir von den Feldern zurückkehrten, und wählte einige von uns aus. Ohne ein Wort zu sagen, brachte er uns ins Kellergeschoss des Haupthauses. Wir wussten, was uns erwartet. Sachen, die er sich ausgedacht hatte: Sonden, Injektionen, chemische Produkte. Hartmann betrachtete sich als Forscher, Wissenschaftler. Natürlich fehlte auch nie die spirituelle Dimension. Wir sollten unsere Fehler bekennen. Um Vergebung und Gnade flehen. Am Ende der Bestrafung mussten wir ihm sogar die Hand küssen. Dios en el cielo, yo en la tierra. Er war unser einziger Herr auf dieser Erde.«
    Kasdan erklärte schroff:
    »Es ist nicht sehr christlich, Kinder zu foltern.«
    Milosz lachte laut auf:
    »Freunde, ihr habt nichts von der Philosophie Hans-Werner Hartmanns begriffen! In seinen Augen gab es nichts Christlicheres als dieses Leiden. Habt ihr noch nie von Mortifikation, von Kasteiung gehört? Ich glaube, ein kurzer Lehrgang in Theologie würde euch nicht schaden. Hört mir zu, meine Vögelchen, denn heute Abend bin ich gut in Schwung …
    Man kann durch Beten, aber vor allem durch Leiden zur Reinheit gelangen. Die Strafe ist hier das Mittel zur Reinigung. Dadurch kann sich der Mensch läutern. Das ist der Schlüssel zum geistlichen Wachstum. Das Böse in uns verbrennen, den irdischen Teil, das Fleisch, verzehren, bis die Seele rein und frei wird.
    Lasst mich euch diese besondere Alchimie erklären. Auf gewisse Weise ein Paradox. Weil man sich von seinem Körper befreien muss, aber zugleich ist der Körper ein Werkzeug der Erkenntnis … In dem Maße, wie man in seinem Körper leidet, beginnt ein Dialog mit Gott. Man wird ein Märtyrer seiner selbst. Man wird ein Erwählter. Befreit von sich und der Welt. Extra mundum factus … «
    Volokine warf Kasdan einen verblüfften Blick zu. Le Chat à neuf queues war der letzte Ort auf der Welt, an dem er erwartet hätte, theologischen Nachhilfeunterricht zu erhalten. Milosz fuhr fort:
    »Zieht nicht so ein Gesicht, Kumpels. Ich spreche von sehr konkreten Empfindungen. Habt ihr noch nie bemerkt, dass euer Verstand schärfer wird, wenn ihr Hunger habt? Ihr habt dann Zugang zu einem höheren Bewusstseinsfeld. Hartmann hatte diese Erfahrung wohl im Berlin der Nachkriegszeit gemacht. Mitten in einer mystischen Krise steigerte der Hunger die Intensität seiner Visionen und Offenbarungen … Er hatte seinen Weg gefunden: Gebet, Fasten, Kasteiungen … Diese Prüfungen öffnen einem die Seele, Freunde. Der Geist verfeinert sich, wird schärfer und kommt vielleicht sogar dahin, Gott selbst zu schauen. Die Buddhisten nennen das Erweckung. Die muslimischen Sufis praktizieren diese Übungen seit Jahrhunderten.
    Aber bei den Christen gibt es ein ganz bestimmtes Vorbild für diesen Weg. Den von Jesus Christus. Der Messias ist in der Gestalt eines Menschen auf die Erde gekommen. Er hat großes körperliches Leid erduldet, um wieder auf den Weg seines Vaters zu finden. Sein Leiden ist der Weg. Er hat uns den Weg gezeigt.
    In Asunción war die Nachahmung Christi sehr konkret geworden. Hartmann wandte sich vor allem an die Kinder. Er suchte also nach mustergültigen Beispielen. Für die Geißelungen benutzte er eine besondere Holzsorte. Angeblich das Holz, aus dem schon die Dornenkrone Christi gemacht wurde. So konnten sich die Kinder in ihrem Leiden mit Jesus identifizieren. So wie sich ein gewöhnliches Kind mit einem berühmten Fernsehstar identifiziert, wenn es sich verkleidet.«
    Volokine und Kasdan wechselten einen Blick. Wenn sie noch ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, der Kolonie und den jüngsten Morden gebraucht hätten, hier hätten sie es gehabt. Die Akazie im Jardin des Plantes …
    Milosz fuhr mit samtiger Stimme fort:
    »Ihr

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