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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sowie den scheußlichen Gestank von geröstetem Fleisch und versengtem Haar in der Nase. Erst nach einigen Sekunden begriff er, dass das Heulen der Flammen nur das Läuten des Telefons war.
    »Hallo?«
    »Ich bin’s.«
    Ricardo Mendez, der fistelnde Gerichtsmediziner.
    »Hab ich dich geweckt?«
    »Ja!« Kasdan warf einen Blick auf seine Uhr: 8.15 Uhr. »Und das ist gut so.«
    »Laut Statistik schläft ein alter Mensch vier Stunden länger als ein Mensch mittleren Alters.«
    »Quatsch nicht!«
    »Schlechte Laune ist auch eine Eigenart alter Menschen. Schön. Ich leg mich jetzt aufs Ohr. Hab die Nacht mit deinem Chilenen verbracht. Willst du die endgültigen Ergebnisse hören?«
    Kasdan stützte sich auf einem Ellbogen auf. Allmählich wich der panische Schrecken aus seinen Adern.
    »Kurz gesagt …«, fuhr Mendez fort, »hat sich bestätigt, was ich dir gestern gesagt habe. Herzstillstand, verursacht durch einen starken Schmerz, der wiederum durch einen spitzen Gegenstand hervorgerufen wurde, mit dem die beiden Hörorgane durchbohrt wurden. Das Neue ist, dass eine Vorerkrankung vorlag.«
    »Was soll das heißen?«
    »Unser Mann hatte Herzprobleme. Sein Herz weist gravierende Schädigungen infolge von Infarkten auf. Der Herzmuskel zeigt unregelmäßige rötliche Streifen. Ich erspare dir die Einzelheiten. Seine Pumpe hat ausgesetzt, mehrmals in seinem Leben.«
    »Das heißt?«
    »Normalerweise verrät ein solches Herz eine ungesunde Lebensweise: Zigaretten, Alkohol, Übergewicht … Aber Götz hatte die Gefäße eines jungen Mannes. Keinerlei Anhaltspunkte für den übermäßigen Konsum von Genussgiften.«
    »Also?«
    »Ich neige zu der Annahme, dass er kurze Herzstillstände, Krämpfe der Herzkranzgefäße erlitten hat, hervorgerufen durch starken Stress. Extreme Angstzustände. Heftigste Schmerzen.«
    Kasdan rieb sich das Gesicht. Allmählich konnte er wieder klar denken. Der Albtraum und der Geruch nach verbranntem Fleisch verblassten.
    »Götz geriet in die Hände der chilenischen Junta. Er wurde gefoltert.«
    »Das könnte diese Schädigung des Herzmuskels erklären. Und noch etwas anderes.«
    »Was?«
    »Narben. Auf dem Glied, dem Oberkörper, den Extremitäten, aber vor allem dem Glied. Ich muss das noch genauer untersuchen. Die Narben unter dem Mikroskop betrachten, um sie exakt zu datieren und herauszufinden, auf welche Weise sie ihm zugefügt wurden.«
    Kasdan schwieg und überlegte. Todesursache: Schmerzen. Es bestand ein Zusammenhang zwischen seinem früheren Martyrium und den Umständen seines Todes. Waren chilenische Folterknechte nach Frankreich gekommen, um ihn umzubringen?
    »Letztes Detail«, fuhr Mendez fort, »dein Typ ist wegen eines Bandscheibenvorfalls operiert worden. Er trägt eine nummerierte Prothese aus französischer Produktion. Anhand der Marke und der Seriennummer kann ich feststellen, wo und wann er operiert wurde.«
    »Was versprichst du dir davon?«
    »Damit lässt sich überprüfen, ob unser Mann unter demselben Namen in Frankreich eingereist ist.« Mendez lachte auf. »Bei Einwanderern muss man immer auf der Hut sein!«
    »Du hast von weiteren Untersuchungen des Hörorgans in Mondor gesprochen …«
    »Noch keine Befunde erhalten.«
    »Und deine Expertin im Klinikum Trousseau?«
    »Noch nicht erreicht. Du wirst mit deiner Kinderschreck-Visage doch hoffentlich nicht auf die Idee kommen, dort aufzutauchen? Das ist eine Klinik, in der taube Kinder behandelt werden, für die immer Weihnachten ist.«
    »Danke, Ricardo.«
    Kasdan legte auf und rekelte sich in seinem Bett. Er erinnerte sich wieder an den Traum. Bruchstückhaft. Er hatte Bücher über Traumdeutung gelesen, vor allem das von Freud. Er kannte die wichtigsten Mechanismen der Traumarbeit: Verdichtung, Verschiebung, Umwandlung in Bilder. Und den entstellten, verfremdeten Traumbildern lag immer eine sexuelle Begierde zugrunde. Was verbarg sich hinter dieser bestialischen Hinrichtung, die ihn seit Jahrzehnten verfolgte? Der Armenier schüttelte den Kopf. Trotz seines Alters belog er sich noch immer selbst. Er tat so, als sei es nur ein Albtraum, wo es sich doch in Wirklichkeit um eine Erinnerung handelte.
    Badezimmer. Der Armenier wohnte seit drei Jahren in einer Flucht ehemaliger Dienstbotenräume, die sich in dem Gebäude an der Ecke Rue Saint-Ambroise und Boulevard Voltaire befanden. Die erste Bude hatte er 1997 für seinen Sohn gekauft. Ein paar Jahre später hatte man ihm die drei Nachbarzimmer angeboten. Er hatte sie gekauft

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