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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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seiner Luftröhre. Und schon die Angst vor der nächsten Kontraktion …
    Weit weg, sehr weit weg nahm er Schritte wahr.
    Sein Zimmernachbar kam, um nachzusehen, ob er vielleicht krepierte.
    »Alles okay?«
    Volokine forderte ihn durch eine Geste auf, zu verschwinden. Er wollte leiden bis zum Schluss. Allein. Den Boden berühren, um nie mehr nach oben zu kommen. Der andere wich zurück, während ihn bereits ein neuer Krampf in das Loch schleuderte.
    Sein Kopf zitterte. Speichel tropfte von seinen Lippen in die Gallenflüssigkeit, die im Klobecken stand. Volokine rührte sich nicht mehr. Die kleinste Geste, das leiseste Schlucken konnte das Tier wecken …
    Gleichzeitig gab er sich stoisch. Er würde kein Medikament einnehmen. Weder Methadon noch Subutex. Man hatte ihn hierher, in dieses Heim im Département Oise verlegt, den Tempel des »nicht-medikamentösen« Entzugs. Da würde er sich bis zum Schluss an dieses radikale »Nein« halten.
    Der Anfall flaute ab. Er spürte es. Das Fieber ging zurück, um der Kälte zu weichen. Eine eisige Flüssigkeit in den Adern, das Klirren von Kristallen, die die Wände seiner Blutgefäße zerschnitten.
    Es war sein zweiter Entzugstag.
    Zusammen mit dem dritten einer der schlimmsten.
    Und, um die Wahrheit zu sagen, würden auch viele weitere nicht besser sein.
    Aber man musste durchhalten. Um sich selbst zu beweisen, dass man nicht krank war. Oder wenigstens, dass die Krankheit nicht unheilbar war. Man konnte damit fertig werden. Er wusste es. Er hatte davon gehört. In seiner Psyche, die von den Entzugserscheinungen gemartert wurde, klang dieser Gedanke wie ein Märchen wider. Ein Gerücht, das man nicht nachprüfen konnte.
    Er richtete sich wieder auf, ließ sich auf den Hintern fallen, mit dem Rücken zur Wand, den linken Arm auf der Klosettbrille, den rechten ausgestreckt, wie in Erwartung eines Schusses. Er blickte hinab auf diesen Arm, der ihm wie abgetrennt von seinem Körper erschien – gelb, blau, bläulich rot und so dünn wie eine Liane. Er stieß ein kurzes, unheimliches Lachen aus. Du bist nicht gerade in Hochform, Volo… Langsam massierte er sich den Unterarm, spürte die Haut, die hart wie Baumrinde war, die Muskeln, darunter die verkümmerten, zerfressenen Knochen.
    Zwei Tage ohne Stoff. Heute hatte er das klassische schwarze Loch durchgemacht. Die Ruhe vor dem Sturm. Wenn das Untier die Höhle verlässt, um sein Fressen zu fordern. Er hatte die Hydra erwartet. Punkt Mitternacht war sie aufgetaucht, und nun rang er seit zwei Stunden mit ihr, wie ein antiker Held.
    Volokine schlang die beiden Arme um seine Schultern und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Seine Zähne klapperten, die Klosettbrille neben ihm bebte. Wieder spürte er einen Brechreiz und glaubte, er müsse sich gleich übergeben. Aber nein. Nachdem er kräftig gerülpst hatte, entspannte sich sein Magen unversehens. Du hast es bald geschafft … Er würde bis in sein Zimmer kriechen können und darum beten, dass er wenigstens bis zum Morgengrauen schlafen konnte.
    Bei Tag sah die Hölle wenigstens anders aus.
    Er fand die Wasserspülung, betätigte den Drücker.
    Auf allen vieren bewegte er sich vorwärts. Das schweißnasse Hemd klebte an seinem Rücken. Seine Arme zitterten vor Kälte, als hätte er hundert Liegestütze gemacht …
    In sein Zimmer zurückkehren.
    Sich in seinen Daunenschlafsack kuscheln.
    Den Schlaf herbeiflehen.
    Als er aufwachte, zeigte seine Uhr 4.20 Uhr. Über zwei Stunden hatte er bewusstlos dagelegen. Er war auf dem Kachelboden des Klos ohnmächtig geworden.
    Erneut setzte er sich in Bewegung, im Schneckentempo. Wie eine Raupe krümmte und streckte er sich abwechselnd in seinen Klamotten, die steif von getrocknetem Schweiß waren. So kroch er auf den Gang. Allmählich stieg eine vage Hoffnung in ihm auf. Er würde gestärkt aus diesem Albtraum hervorgehen. Ja. Gestärkt und, bis in die kleinsten Windungen seines Gehirns von einem Gedanken erfüllt, der wie ein glühendes Eisen brannte. Nie wieder.
    Es gelang ihm aufzustehen; er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türstock. Mit dem Rücken an der Wand schlüpfte er in den Gang, hob die bleischweren Füße ein paar Zentimeter an, um sie ein Stückchen weiter abzusetzen. Der Rauputz, dann das Sperrholz einer Tür, und so weiter. In jedem Zimmer erahnte er gemarterte Schicksalsgefährten, verkrachte Existenzen wie er, alle auf Entzug …
    Eine Tür, zwei Türen, drei Türen …
    Schließlich umfasste er die Klinke seiner

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