Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
scheiße.
Ich kann Leute, die über das Aussehen anderer herziehen, nicht leiden, das macht mich wütend. So geht man nicht mit Menschen um, das tut verdammt weh, das weiß ich selbst nur allzu gut.
Meine Eltern haben mir nicht viel Gutes mitgegeben. Trotzdem tut es mir heute leid, wie sie nach „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ dastanden. Das sind meine Eltern, und sie bleiben meine Eltern, ich würde sie niemals wieder in der Öffentlichkeit so bloßstellen. Heute wähle ich meine Worte sehr bedacht, wenn ich über sie spreche. Das ist gar nicht so einfach, denn ich will auch nicht die Wahrheit biegen.
Vieles, was mir passiert ist, und viel von dem, was ich heute bin, liegt zum großen Teil in meiner Kindheit begründet.
Auch die guten Sachen: Dass mir das ausgiebige Essen mit meinem Sohn so wichtig war und die Idee, dass er einen Sinn für Ordnung entwickelt; das liegt daran, dass es das bei uns zu Hause damals nicht gab.
Anette und ich haben uns schon als kleine Schulkinder immer abgewechselt damit, Frühstück zu machen und mit dem Hund spazieren zu gehen. Denn meine Eltern haben nichts gemacht, nicht mal zum Tierarzt sind sie mit meiner Dogge Ajax. Oft wurde ihm einfach nur rohes Fleisch hingeworfen: Leber, Euter, Milz und Lunge; alles stand dann lange da, und der Hund hat nicht mal eine Wurmkur bekommen.
Ich weiß noch, was passiert ist, als wir gerade in die neue, große Wohnung in Berlin-Gropiusstadt eingezogen sind und meine Mutter ihre Arbeit als Sekretärin aufgenommen hatte: Am dritten Tag ist sie abends zusammengebrochen und hat nur noch geweint. Nervenzusammenbruch: „Oh Gott, ich kann nicht mehr! Wie es hier aussieht. Was habt ihr denn nur gemacht?“, sagte sie, als hätten wir das Haus in Brand gesteckt. Und wir: „Was haben wir denn gemacht? Wir haben gespielt!“ Gott, was Kinder eben so machen. Ein bisschen Dreck, ein bisschen Unordnung. Meine Schwester war sieben, ich war acht.
Kurz zuvor hatten wir Gundula Köstner kennengelernt, sie war schon zwölf. Sie wohnte im dritten Stock und hatte noch zwei Geschwister, Anne und Victoria. Die drei haben dann auf uns aufgepasst, sogar als mein Opa gestorben ist. Meine Eltern ließen uns tatsächlich allein, als mein Großvater starb. Die Familie meiner Mutter lebte in Hessen, und Anette und ich mussten morgens allein zur Schule gehen. Wenn wir nachmittags nach Hause kamen, passten die Nachbarskinder auf uns auf – wenn überhaupt jemand. Wo gibt es denn so was? Kann man sich vorstellen, wie allein wir waren? Die Nachbarskinder haben uns auch gezeigt, wie man zu Hause aufräumt. Wie das alles geht, Blumen gießen, Gassi gehen, Geschirr spülen. Außerdem gab es auch noch die Brieftauben auf dem Balkon, die mein Vater züchtete. Und 20, 30 Tauben machen sehr viel Dreck.
Das war einfach alles zu viel Verantwortung. Anette war zudem eher zerbrechlich und hat sich immer hinter mir versteckt. „Ey, Püppi, hör doch mal auf“, habe ich dann gesagt. „Häng nicht immer so an mir dran.“
Mein Vater wollte ja in Berlin diese Ehevermittlung aufziehen, den Leuten gegenseitig Fotos zuschicken, Persönlichkeitsprofile und so weiter. Generell war das eine gute Idee, nur leider waren meine Eltern, Mitte der Sechzigerjahre, damit wohl zu früh dran. Heute nutzen das so viele Leute, aber damals hat man sich so etwas nicht getraut. Und die 5-Zimmer-Wohnung direkt am Paul-Lincke-Ufer kostete 500 Mark, quasi unbezahlbar.
Je mehr mein Vater merkte, dass seine Ideen den Bach runtergingen, desto heftiger waren sein Wutausbrüche. Er war doch selbst erst 25, fast noch ein Kind, dessen Träume nach und nach alle zerplatzten. Darum kann ich ihm nicht böse sein. Er war genauso überfordert wie wir alle.
Seit meine Schwester 16 Jahre alt war, lebte sie in besetzten Häusern in Berlin-Kreuzberg. Hunderte meist linke Jugendliche und junge Erwachsene haben ja in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Reaktion auf die Sanierungspolitik des Senats und die damit verbundene Wohnungsknappheit leer stehende, oft für den Abriss vorgesehene Häuser besetzt.
Als die Polizei versuchte, diese zu räumen, kam es zu Straßenschlachten, die teilweise mehrere Tage andauerten. Viele Besetzer waren Autonome, also Linksradikale, Anarchisten.
Zunächst einmal hielt man zusammen – gegen Politik und Polizei. Aber später tat sich unter den Besetzern ein Konflikt auf: Wie sollte der Wohnraum aussehen, den man gemeinsam erkämpft hatte? Und wer würde was dafür investieren
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