Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
wollen? Viele von denen, die aus bürgerlichen Familien stammten, kehrten in ihr altes Leben zurück. Andere richteten sich in den besetzten Häusern ein.
Und hin und wieder gab es Krawall. Mittendrin meine Schwester, die bei Stress oft nervlich am Ende war. Die Razzien haben ihr psychisch zugesetzt, dennoch wollte sie nicht ausziehen, denn sie wusste nicht wohin. Irgendwo fand sie dort wohl eine Heimat.
Mehrere Hundert Quadratmeter hatte das ganze Areal in der Waldemarstraße. Es gibt dort ein Vorderhaus, in dem nur Türken leben, dann zwei Seitenflügel und eine Remise, in der sie Geräte und viele Lebensmittel wie Käse und halbe Schweine aufbewahrten. Selbst im Haus drinnen hatte man noch das Gefühl, draußen zu sein. Überall wuchsen Pflanzen in riesigen Blechwannen, die Räume waren weitläufig. Unten gab es Wohnraum und Küche, oben waren die privaten Räume, Schlafzimmer und Bad. Manche Schlafplätze nur durch dünne, indische Tücher voneinander getrennt.
Etwa zehn Jahre lebte Anette dort mit Mann und Kind. Wenn man das so nennen kann, denn im Grunde war das ja eine große Kommune, und manche versuchten dort, ein Ideal der freien Liebe auszuleben. Nach der Trennung von ihrem Mann lebte meine Schwester eine Zeitlang mit ihrem Ex, dessen neuer Geliebten und den Kindern zusammen unter einem Dach – auch ihrer Tochter zuliebe und fast zwei Jahre lang. Dann wanderte ihr Ex nach Italien aus und betreibt da jetzt offenbar erfolgreich eine Bio-Viehzucht.
Anettes Tochter ist inzwischen auch ausgezogen und studiert Sprachen. Das Talent hat sie von ihrer Mutter. Um die 30 müsste sie jetzt sein, etwa so alt wie meine Halbschwester aus Thailand. Und auch sie hat etwas Exotisches an sich: einen wunderschönen indianischen Namen, den ich nicht nennen möchte, weil es ihn nur einmal in Deutschland gibt. Er erinnert daran, dass Anettes Tochter im Morgengrauen geboren wurde, und an die Hippie-Zeit, die Anette erlebte.
Als ich noch als Teenager in Hamburg lebte, bekam ich von meiner kleinen Schwester eines Tages einen Brief, in dem sie mir schrieb, dass in ihrem Freundeskreis nun auch das Heroin umging.
Das waren Hippies, so ähnlich wie die, die Panagiotis getroffen hatte. Auch sie waren alle mal mit dem Magic Bus in Indien gewesen und haben Rohopium in Wachskugeln gepackt und runtergeschluckt. Ich finde das nicht so eklig wie Kondome zu schlucken, was ja auch viele machen. Aber ist ja auch völlig egal, wie das Zeug nach Berlin kam, Hauptsache, es war da.
Viele junge Mädchen haben sich später in den kleinen, dreckigen Puffs in Berlin prostituiert, um ihre Sucht zu finanzieren. Sie hatten eben keine Buch-Tantiemen wie ich. Die Frauen standen dort total aufgetakelt im Fenster und mussten sich auf High Heels wackelnd an Stangen räkeln, obwohl manche völlig im Jum waren. Den Zuhältern ist das egal, wie die Mädels drauf sind, solange sie Geld machen. Und diese Mädels machten alles für Geld.
Das war anders als bei uns am Bahnhof Zoo. Ich musste weder Geschlechtsverkehr machen noch Oralverkehr, wenn ich das nicht wollte. Manchmal brauchte ich nur da zu sitzen, und die Typen haben sich selbst einen runtergeholt – und dafür bekam ich 25 oder 50 Mark. Später, in den Achtzigern, war das schon eine ganz andere Nummer, vor allem wegen der Zuhälter.
In der Welt der Hausbesetzer war Heroin nicht üblich. Aber Anette bekam eben auch mit, was los war in der Rotlicht- und H-Szene. Ich weiß gar nicht, was sie dort zu suchen hatte. Nach ein paar Jahren ging sie ja auf Distanz zu diesen Leuten. Das muss Anfang der Neunziger gewesen sein. Seither lebt sie sehr zurückgezogen und geht ihren Weg.
Sie macht die Tür erst gar nicht auf, wenn sie nicht weiß, dass jemand zu Besuch kommt. Selbst wenn ich unangemeldet klingeln würde, würde sie nicht aufmachen. Sie hasst es noch viel mehr als ich, gestört zu werden, wenn es gerade nicht passt. Deshalb hat sie allen beigebracht: „Wenn ihr vorbeikommen wollt, meldet euch an! Und wenn ich nicht rangehe, dann will ich niemanden sehen!“
Früher war ich über Jahre hinweg mehrmals die Woche bei ihr. Aber jetzt haben wir uns schon länger als zwei Jahre nicht mehr gesehen. Damals habe ich ihr ein Handy geschenkt. Denn ans Festnetztelefon ging sie nie ran, weil sie immer Schiss hatte, dass da irgendjemand Unangenehmes am Apparat sein könnte – ein Bulle oder einer von der Szene. Oder jemand aus dem Rotlichtmilieu. Oder unsere Mutter.
Auf dem Handy kannst du ja sehen, wer
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