Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
klopfte ihm sanft auf den Rücken, damit er atmete. Das hatte ich bei den Schwestern gesehen, und das konnte ich auch: „Hol Luft, Junge!“, habe ich immer wieder gesagt. „Hol Luft, los!“ Eine ganze Woche ging das so, dann wurde es nach und nach besser. Ich habe keine Ahnung, wie viele Kinder wir in dieser Kinderarztpraxis angesteckt haben, aber der Doktor wollte mir ja nicht glauben, damals vor fast 18 Jahren.
Im nächsten Jahr wird mein Junge volljährig.
Aber unter Umständen, wenn er weiter zur Schule geht, kann er noch etwas länger bei seinen Pflegeeltern leben. Ich konnte damals nicht beeinflussen, wo Phillip hinkommt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es sehr gut getroffen hat, wo er jetzt ist. Zunächst einmal war ich erleichtert, dass er nicht zu einem ganz normalen Elternpaar kam, wo es dann nachher heißt: „Hier läuft es aber ein bisschen anders, unsere Erziehung ist soundso.“
Phillip lebt zusammen mit fünf anderen Pflegekindern in einem Haus in Brandenburg. Es fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich merkte, dass ich weiterhin Einfluss nehmen, eine Rolle spielen konnte. Wenn mein Kind irgendwann gesagt hätte: „Du bist nicht mehr meine Mutter, sondern die“, das hätte mir das Herz gebrochen, das hätte mich komplett fertiggemacht.
Die Peters sind zwei ganz nette Leute, mit denen ich mich auf einzelne Punkte der Erziehung und auf einzelne Entscheidungen verständigen konnte, zum Beispiel, welche Schulprojekte und -reisen er macht und welche Sachen er sich anschaffen darf. Ich denke, sie sind Pädagogen, haben so etwas gelernt oder studiert, aber genau weiß ich das nicht. Sie sind sehr liebevoll und nicht so distanziert wie die Leute beim Jugendamt. Die anderen Kinder sind auch einfach nur süß und nett.
Mit Maya hat Phillip von Anfang an eine enge Freundschaft aufgebaut – natürlich nicht im sexuellen Sinne, sie waren beide erst zwölf. Es ist ein freundschaftliches, sehr vertrautes Verhältnis. Es nahm ihn damals sehr mit, dass ich nicht mehr da war. Phillip brauchte Nähe, ist doch auch klar, er war ja noch ein Kind. Maya hat keine Eltern mehr, eine ganz furchtbare Geschichte. Ihr Vater und ihre Mutter sind beide bei einem Unfall gestorben, als sie ein Baby war. Sie kam zu den Peters, als sie noch krabbelte, und ich denke, sie hat weder Geschwister noch andere Verwandte, die sich um sie kümmern. Soweit ich es mitbekommen habe, fahren die anderen Kinder an den Wochenenden oder über die Feiertage immer nach Hause zu ihren Familien, nur Maya bleibt dann bei den Peters.
Zumindest war das bis vor Kurzem so. Als zwei problematische Kleinkinder das Haus der Peters verlassen mussten, weil sie die anderen verletzten und verprügelten und vieles kaputtmachten, nahmen sie zwei Babys in Obhut, ein einjähriges Mädchen und ihren zweijährigen Bruder. Die Mutter war schwere Alkoholikerin und hatte auch in der Schwangerschaft getrunken.
Offenbar haben die beiden Kleinen keine körperlichen Schäden davongetragen, aber seelische. Als ich am Telefon hörte, wie erschöpft Phillips Pflegevater klang, und mich nach seinem Befinden erkundigte, sagte er, dass er kaum mehr schlafe, weil die Babys nur schreien würden. Oh Gott, die tun mir leid.
Dann gibt es noch Steffi. Sie ist gerade 18 geworden, aber die Kinder werden da nicht sofort rausgeworfen, wenn sie volljährig sind. Und dann ist da noch der kleine Benjamin. Er ist zehn, und für ihn ist Phillip so etwas wie ein großer Bruder.
Die Jungs teilen sich ein Zimmer und verstehen sich gut. Wenn wirklich was ist, dann steht Phillip hinter dem Kleinen wie ein Baum, selbst wenn er manchmal auch ziemlich genervt von ihm ist. Denn Benjamin ist tatsächlich ein bisschen hilfsbedürftig, weil auch seine Mutter während der Schwangerschaft weitergesoffen hat. Und er läuft einem ständig hinterher, zupft an den Klamotten und sagt immer: „Mir ist langweilig.“
Aber Phillip ist ganz geduldig mit ihm, darin ist mein Sohn besser als ich, denn ich würde ausflippen, wenn jemand schon um halb sechs Uhr in der Früh in meinem Zimmer einen riesigen Karton Legosteine auskippen und Krach machen würde. Phillip findet das natürlich auch nicht so toll, aber er sagt nur: „Mama, ich bin ja sowieso wach. Was soll’s?“
Denn Phillip braucht beinahe anderthalb Stunden mit dem Bus zur Schule in Potsdam. Er hat einen verdammt langen Tag, oft kommt er erst am Abend um 18 Uhr wieder nach Hause.
Phillip findet seine Schule schrecklich. Er beklagt
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