Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
Pflichtlektüre, und als drei Jahre nach Erscheinen des Buches Christianes Geschichte als Film in die Kinos kam, wurden die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ sogar in Amerika ein Hit. Wer auf Twitter oder Facebook Christiane F. als Suchwort eingibt, entdeckt immer noch aktuelle Fanseiten, Foren und Postings, erst gestern gemacht, gesendet von überall auf der Welt.
Dabei ist Christiane eine tragische Heldin – eine Antiheldin, der ihr empathisches Vermögen zum Verhängnis wird, weil sie den prügelnden Vater lieber versteht, als ihn zu hassen, und die aus dieser Erfahrung heraus eine verheerende Faszination für Menschen entwickelt, die ihr Angst machen und sie an körperliche Grenzen bringen. Sie ist auch ein Mädchen, das sich durch seine scheinbar hilflos ausgelieferte Mutter zusätzlich ermutigt fühlt, niemals Opfer der Umstände, sondern hart im Nehmen sein zu wollen. Und das all diese widersprüchlichen Gefühle zu betäuben beginnt. Mit Alkohol, Drogen und der ständigen Suche nach Zugehörigkeit.
Christiane ist gerade einmal 14 Jahre alt, als sie schon tief in einem Teufelskreis aus Heroinsucht, Kriminalität, emotionaler Verwahrlosung und Prostitution verstrickt ist. Die wenigen Chancen, aus ihrer lebensbedrohlichen Lage herauszufinden, kann sie zwar durchaus begreifen, aber nicht ergreifen, vielleicht weil genau dieser Kampf mit der Abhängigkeit schon längst ihr stärkster Lebensmotor geworden ist. Die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen ihrer Sucht wird zum Lebensinhalt, während deren Ursachen ihr nur ein Gefühl von Leere verschaffen.
Christiane Felscherinow kommt ganz unten an – gesundheitlich, sozial, moralisch. Doch der Scharfsinn, mit dem die junge Berlinerin ihren eigenen Verfall beobachtet, und das Selbstbewusstsein, mit dem sie auf ihr Schicksal blickt, indem sie niemand anderem die Schuld daran gibt, außer sich selbst, erklären vielleicht die Sympathie, die die Öffentlichkeit ihr schnell entgegenbringt.
Mit den niedergeschriebenen Erzählungen ihrer Kindheit in der Berliner Satellitensiedlung Gropiusstadt und als heroinabhängige Kinderprostituierte an der Kurfürstenstraße und am Bahnhof Zoo erwirkte Christiane Felscherinow eine dermaßen unerhörte Resonanz wie einst Goethes „junger Werther“. Jener sollte vor zu viel Selbstmitleid und Gefühlschaos warnen, bald aber sah sich sein Autor mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe durch seine bewegenden Texte junge Männer zum Selbstmord angestiftet.
Die Leiden der jungen Christiane F. wurden gefeiert als Aufklärung über einen Teil der deutschen Gesellschaft, dessen Existenz man bis dahin geleugnet hatte. Die Protagonistin wurde zur bewegenden Verkörperung jugendlicher Unrast und Auflehnung, die Nachahmungstäter fand, und sie wurde ein anziehend abschreckender Promi-Junkie, dessen selbstzerstörerische Sucht die Öffentlichkeit erregte.
Der Stern-Autor Horst Rieck hatte Christiane Felscherinow im Frühjahr 1978 bei einem Prozess gegen einen pädophilen Mann im Kriminalgericht Berlin-Moabit kennengelernt. Christiane war damals 15 Jahre jung und lebte bei ihrer Großmutter väterlicherseits im norddeutschen Kaltenkirchen. Der vor dem Moabiter Gericht angeklagte Mann hatte jugendliche Prostituierte mit Heroin bezahlt und war einer von Christianes Freiern gewesen.
Horst Rieck berichtete über den Prozess, sprach dabei auch mit den Opfern des Angeklagten und war von Christianes Erzählungen sofort elektrisiert, wie er sagt: „Sie erzählte quasi druckreif. Ich hatte das Gefühl, sie ist vollgesogen wie ein Schwamm.“ Und Christiane erinnert sich 2012: „Ich sagte Horst schon beim ersten Treffen, dass ich mit meinen Geschichten ganze Tagebücher gefüllt habe. Das brachte ihn wohl auf die Idee mit dem Buch.“ So wurde aus dem ursprünglich geplanten Interview mit der Zeugin Christiane Felscherinow ein dreimonatiger Austausch im Sommer 1978, zu dem Rieck seinen Stern-Kollegen Kai Hermann hinzuzog.
1968 waren die Eltern Felscherinow aus dem schleswig-holsteinischen Nützen nach Berlin gezogen. Christiane war gerade sechs geworden. Mit der Aufregung dieses Umzugs an die Spree und der Hoffnung der Familie Felscherinow, mithilfe der Berlinzulage eine professionelle Heiratsvermittlung aufziehen zu können, beginnt das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Doch schon bald folgt die Ernüchterung, der Businessplan geht nicht auf. Die Familie muss aus der großen, gerade bezogenen Altbauwohnung am Paul-Lincke-Ufer in
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