Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Titel: Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane V. Felscherinow , Sonja Vukovic
Vom Netzwerk:
ich ihn immer in sein Zimmer, wenn er vor dem Fernseher eingeschlafen war. Irgendwann, er wird ungefähr elf gewesen sein, konnte ich ihn nur noch über den Rücken nehmen und schleppen. Jetzt kann ich ihn nur noch wecken und mit einem Arm stützen. So groß ist er, sogar größer als sein Vater.
    Ich gab Phillip das Bier, weil ich nicht wollte, dass er diese Alkoholtests an der Schule macht. In Brandenburger Schulen sollen Schüler unter Aufsicht Alkohol trinken und Aufgaben lösen, um zu erleben, wie sehr das Reaktionsvermögen nachlässt. Wegen der Jugendsaufereien machen die das. Ich habe das verboten, und zwar, weil ich nicht will, dass die Leute sagen, Phillip trinkt. Ich möchte auch nicht, dass er eine hohe Alkoholresistenz entwickelt, so wie ich. Ich trinke eine ganze Flasche Southern Comfort und spreche vollkommen klar. Das will ich nicht für Phillip.
    Aber welchen Einfluss habe ich noch auf den Jungen? Es hat einen Keil zwischen uns getrieben, als man uns voneinander trennte. Nicht nur aufgrund der Distanz, nicht nur weil wir uns seither nur alle paar Wochen sehen durften.
    Es ist etwas kaputtgegangen dadurch, dass man uns das Einzige nahm, was wir hatten: uns.
    Phillip war völlig auf mich fixiert und ich auf ihn. Das war nicht krankhaft, das war liebevoll, so, wie es zwischen Mutter und Kind nun einmal ist, er war elf, verdammt noch mal. Er war ein Kind. Mein Kind. Der Verlust eines Menschen, den man liebt, das sind die schlimmsten Schmerzen, die es gibt. Das weiß jeder, der schon einmal auf irgendeine Weise loslassen musste, wen er liebte.
    Und Phillip? Manchmal glaube ich, dass er immer noch wütend auf mich ist. Er kann mir nicht verzeihen, was er durchmachen musste, als sie ihn mir weggenommen haben. Und ich kann es auch nicht. Niemals. Natürlich könnte ich langsam mal Gras darüber wachsen lassen, vergessen, was ich falsch gemacht habe, Frieden schließen. Andere können es ja auch. Aber irgendwie gehört es zu meinem Leben, dass ich nicht loskomme von dem, was mir Schuldgefühle macht. Schuldgefühle sind mir etwas sehr Vertrautes, schon seit Kindestagen. Und ich komme nicht darüber hinweg, ich kann sie nur betäuben. Dann fühle ich mich kurze Zeit besser.
    Als sie mir den Jungen wegnahmen, bin ich vollkommen ausgerastet. Ich wollte nicht mehr leben! Ich habe so schlimm geheult, dass ich wochenlang zu Hause bleiben musste. Meine Augen waren so geschwollen vom Weinen und vom Schlafmangel, dass ich mich geschämt habe, auf die Straße zu gehen. Nur noch nachts, wenn keine Reporter mehr vor meiner Tür standen, bin ich raus, um mir Tabak zu kaufen, Alkohol und Heroin. Seit Phillips Geburt hatte ich keine Spritze mehr angefasst. Der Junge war mein Leben, nie hätte ich uns das angetan. Aber nun war er weg.
    Der Schmerz in meiner Brust war so furchtbar, als müsste ich zerplatzen. Ich war voller Wut und Verzweiflung und gleichzeitig so unfassbar leer. Immer wieder habe ich mich ermahnt, ruhig zu werden, um die Situation doch noch zu retten. Vielleicht kann ich das Jugendamt überzeugen. Vielleicht geben sie mir mein Kind zurück!
    Aber im nächsten Moment wusste ich, dass ich ohnmächtig war. Und ich betäubte mich.
    Es kann einen Menschen töten, wenn er so viele Jahre so wenig Heroin zu sich genommen hat – und sich dann grammweise zuballert. Es gab keinen Grund mehr für mich weiterzumachen. Ich konnte weder essen noch schlafen, ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt gewaschen habe in dieser Zeit. Wenn ich nicht völlig zugedröhnt irgendwo in der Ecke lag, bin ich in meiner Wohnung auf und ab gelaufen, bis ich irgendwann nicht einmal mehr wusste, ob es sechs Uhr morgens oder sechs Uhr abends war. Es war die dümmste in einer langen Reihe dummer Entscheidungen, in dieser Situation wieder mit dem Drücken anzufangen. Kai Herrmann, einer der Autoren von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, hat damals zu mir gesagt: „Wenn du jetzt eine saubere Urinprobe abliefern könntest, dann könnten wir gegen die Entscheidung des Jugendamtes angehen und die ganze Presse verklagen.“
    Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen.
    Tagelang belagerten Journalisten meine Wohnung in Teltow. Spiegel TV war drei ganze Tage am Stück da und hat sich sogar Strom von den Nachbarn besorgt. Die Reporter befragten Anwohner und warteten, dass ich rauskam, um mir ihre Scheißkameras vor das verheulte und betäubte Gesicht halten zu können und mich zu fragen, wie ich mich fühle.
    Wie ich mich fühlte? Wollten die mich

Weitere Kostenlose Bücher