Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
verarschen, oder sind die so blöd, diese Arschlöcher?
Wie fühlt sich eine Mutter wohl, der das Schlimmste passiert, was einer Mutter geschehen kann? Warum hat mich niemand gefragt, wie mir zu helfen ist, verdammt noch mal?
Ich war so aufgewühlt wegen dieser ganzen Pressemeute, dass ich einmal mein Portemonnaie in der Wohnung liegen ließ, als ich kurz rausmusste. Es fiel mir erst auf, als ich schon über die Straße war. Also musste ich noch einmal zurück, wieder an denen vorbei. Und sie haben mir einfach nur zugesehen. Wie die Geier. Sie wollten von mir und meinem Schmerz gar nichts wissen. Sie wollten mich an meinem tiefsten Punkt aufzeichnen für die Ewigkeit: „Christiane F. hat ihren Sohn für immer verloren“, lauteten die Schlagzeilen. Oder: „Christiane F. zurück im Drogensumpf“. Die wahre Geschichte hat niemanden interessiert.
Mythos Christiane F.
Der Tag war lang, und es ist dunkel. Der Berliner Asphalt glänzt nass vom Regen. Nur wenige Menschen sind noch unterwegs, niemand interessiert sich für das Mädchen, dessen Gesichtszüge, den granatapfelroten Haaren und den High Heels zum Trotz, verraten, dass es kaum älter als 14 Jahre ist. „Hast du mal ’ne Mark?“, fragt es jeden, dem es begegnet. Zerbrechlich wie ein Fohlen sieht es aus, dürr, langhalsig, langmähnig. Es wirkt aufgekratzt, gibt sich schlagfertig. „Alter Wichser“, schreit es einem Mann hinterher, der es, wie schon ein paar Leute zuvor, mit seiner Bitte um eine Spende ignoriert. Das Mädchen kassiert eine Ohrfeige, schreit: „Scheiße!“ Dann fährt ein alter Ford vor und hält an.
Im Wagen sitzt ein dicklicher Mann Mitte 40. Er macht wortlos die Beifahrertür auf und das Mädchen steigt ein. Das Auto ist wie alles andere an diesem Abend grau.
Das Mädchen sagt zu dem Mann: „Bumsen ist nicht.“
Er fragt: „Warum nicht?“
„Hör mal, ich hab ’nen Freund.“
„Dann bläst du mir halt einen.“
„Dann muss ich kotzen.“
„Dann bleibt ja nicht mehr viel. Gut, dann holst du mir halt einen runter.“
„Für einen Hunderter.“
„Okay.“
Später wird sie ihrem Freund erzählen, sie habe es nur für ihn getan. Mit dem Schlauchen habe es eben nicht geklappt, irgendwie habe sie ja Geld besorgen müssen, und da habe sie entschieden, zu dem Freier einzusteigen. Ihr Freund wird ihr kein Wort glauben, ihr stattdessen vorwerfen: „Du hättest es auch getan, wenn es mich nicht gäbe. Die ganze Scheiße ist nur, weil wir drücken.“ Dann träumt er von einem Leben ohne Heroinsucht, und das Mädchen verspricht ihm, dass es, bis es soweit ist, niemals mit einem Freier Geschlechtsverkehr haben wird.
Als der Mann im Ford seinen Orgasmus hat, greift er mit der rechten Hand fest um den Hals des Mädchens, während er mit der linken ihre Hand an seinem Penis festhält. Er stöhnt, als müsse er sich übergeben. Es dauert lange. Dann wird es still, das junge Mädchen springt schnell aus dem Auto. Der Wagen fährt weg, sie läuft mit dem 100-Mark-Schein durch den Regen.
Der Junge in ihrem Alter steht vor Schmerzen gekrümmt an den Gleisen im U-Bahnhof Zoologischer Garten. „Ich habe was“, flüstert sie ihrem Freund zu, der sich an Bauch und Beinen hält. Sie stützt ihn, als sie losgehen, dann verstecken sie sich gemeinsam auf dem Bahnhofsklo. Detlef heißt der braunhaarige, schmächtige, stark schwitzende Junge. Sie heißt Christiane F.
Nachdem sich beide auf der Toilette einen Schuss Heroin in die Armbeuge gejagt haben, erzählt Christiane, wie sie an das Geld für die Droge gekommen ist. Detlef ist enttäuscht und wütend, bis der Stoff anfängt zu wirken, ihm seine Schmerzen nimmt und entspannt.
Dann ist es schon okay, weil eines Tages alles anders sein wird.
Diese Filmszene stammt aus einer der berühmtesten Geschichten der vergangenen 40 Jahre. Ihr Erfolg liegt irgendwo zwischen dem von Karl Mays „Winnetou“ und Joanne K. Rowlings „Harry Potter“ – mit dem Unterschied, dass es eine wahre Geschichte ist: Die von Christiane F. alias Christiane Vera Felscherinow.
Dem Film vorausgegangen war ein Buch, das 1978 unter dem Titel „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ in Deutschland erschienen ist und seitdem mehr als vier Millionen Mal verkauft wurde. Es ist in zahlreiche andere Sprachen übersetzt und bis heute eines der meistgelesenen Sachbücher, die jemals auf dem deutschen Markt erhältlich waren. In vielen deutschen Schulen wurde „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zur
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