Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
gestanden, dass ich einen anderen, kranken Menschen nur um seine Tabletten beneide, anstatt mich für sein Leid zu interessieren. Loriot versteht so etwas, dachte ich.
Er hat mich auch nicht verurteilt, sondern laut darüber nachgedacht, wie seltsam es doch ist, dass Menschen den Bezug zu etwas nur über den Bezug zu dessen Gegenteil aufbauen können. Dass man schlimme oder negative Dinge eher zum Thema machen und sich damit auseinandersetzen kann, wenn man darüber einen Witz macht, als wenn man sie ernst anspricht. Und dass man sich durch die Gegenwart lebensbedrohlicher Dinge auch lebendig fühlt. Als er das sagte, musste ich an Hector Coggins denken.
Loriot erzählte mir auch, wie schwer es für ihn ist, wenn er vom Boulevard völlig unverhältnismäßig kritisiert wird. Die BZ und die Bild fanden ihn nie gut. „Weißt du, Christiane“, sagte er, „du darfst dir nicht alles so zu Herzen nehmen, was die Presse über dich schreibt. Du musst unterscheiden, dass das eine dein Job ist und das andere dein Leben.“
Ich dachte mir damals: Bei mir geht es immer um mich, meine Person, um Christiane F. Ich habe keinen Job. Gott sei Dank nicht mehr. Nicht mehr diesen „Job“, mit dem ich damals mal „berühmt“ wurde.
Daniel Keel lud seine Schriftsteller oft zu solchen Ausflügen ein, um über Geschäftliches zu sprechen. Menschen aus der Literaturbranche, das habe ich damals verstanden, sind Menschen, die Sinnliches lieben und pflegen. Nicht nur ihren Sinn für Fantasie, sondern auch den für gutes Essen, besondere Weine und Zigarren. In Sils Maria übernachteten wir in einem Hotel wie aus einer anderen Zeit. So ein Etablissement war ganz typisch für die Keels. Die gingen nicht in das Palace, sondern wählten ein Hotel, in dem auch schon David Bowie übernachtet hat.
Das Waldhaus Sils scheint auf den ersten Blick sehr schlicht. Aber der flüchtige Eindruck täuscht. Es gibt ein paar Kerzenkronleuchter in der Lobby und in einzelnen Räumen. Aber davon abgesehen, versteht man dort unter Luxus keine Suiten mit Whirlpools oder goldenen Löffeln zum Kaffee. Guter, freundlicher, auf seine Gäste zugeschnittener Service und die Entschleunigung der Zeit, das ist auch meiner Meinung nach der größte Luxus, den man heute haben kann.
Die Möbel im Waldhaus sind sehr einfach und aus dunklem Holz, die Sitzecken und Sessel sind grau, dunkel blau, braun. Viele Räume sind holzvertäfelt, und es gibt eine Bibliothek, in der ein Schachtisch steht. Die Männer haben den gleich in Beschlag genommen, Tee getrunken, Zigarre geraucht. Alles dort hatte einfache Formen und Farben, ich dachte, das sei der Stil des Biedermeier. Aber Loriot klärte mich auf, dass es sich um die Belle Époque handelte, die für den neuen industriellen Reichtum des höheren Bürgertums um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert steht.
Im Keller des Waldhauses gab es ein Hallenbad. Dort schwammen Philipp und ich einmal allein.
Offiziell hieß es immer, ich sei das Au-pair-Mädchen der Keels. Aber hey, Philipp war gerade mal sechs Jahre jünger als ich, Köbi bereits ausgezogen. Wer braucht da ein Au-pair?
Tatsächlich habe ich mich mit den Gästen beschäftigt, nicht mit den Brüdern. Zum Beispiel habe ich mich darum gekümmert, wo wir die Gäste abholen mussten, wenn wir Reisen machten, wann sie wieder abfuhren, wie sie zum Bahnhof kamen und wer was brauchte: Mittagsschlaf? Blumen? Medikamente?
Wie ein Kurier habe ich Dinge zum Verlag gebracht und wie eine Sekretärin Reisen organisiert. Die Arbeit hat mir aber auch einfach Spaß gemacht, ich konnte da nicht nur rumsitzen und quatschen, ich musste doch was tun!
Im Nachhinein denke ich, dass die Eltern Keel auch wollten, dass ich den Jungs mal klarmache, wie gut es ihnen eigentlich geht.
Die Keels, die Dekadenz wirklich hassten, bekamen durch mich wohl ein bisschen mehr Bodenhaftung. Vor allem bei Köbi ist mir das auch gelungen. Ich hoffe, Philipp nimmt es mir heute nicht mehr übel, wenn ich sage, dass er ein kleiner Zocker war und ständig irgendetwas unternehmen musste. Vor allem die Flipperautomaten hatten es ihm angetan.
Ich bin alles Mögliche, aber gierig bin ich nicht. Mit Geld konnte ich schon immer gut umgehen. Der beste Beweis ist ja wohl, dass ich heute noch immer von den Tantiemen leben kann, die ich vor 35 Jahren durch das Buch verdient habe. Klar, da ist auch immer wieder Geld dazugekommen, zum Beispiel durch den Film, der irgendwann auf Blu-ray gepresst wurde. Da bekam ich
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