Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
dessen Existenz als eigenständiges islamisches Staatsgebilde im 9. Jh. trotz der verhaltenen Expansion des christlichen Asturien im Norden ganz ungefährdet blieb.
Von den Häfen des islamischen Spanien, mehr aber noch Nordafrikas, das zur Gänze in arabischer Hand war, gingen im 9. Jh. immer häufigere Piratenzüge aus, die dem Auftreten der Wikinger rund um die Nordsee schon insofern vergleichbar sind, als auch hier einer ersten Phase temporärer Plünderungen eine spätere mit dauerhafter Landnahme und Herrschaftsbildung gefolgt ist. Ein Fanal für künftiges Unheil aus fränkischer Sicht waren die zu 798/99 in den Reichsannalen festgehaltenen Kämpfe mit «Mauren und Sarazenen» um den Besitz der Balearen, denen ab 806 ähnliche Abwehrkämpfe vor Sardinien und Korsika folgten. Anders als an der Nordsee waren die italischen Verteidiger des Karolingerreiches auch zu maritimer Gegenwehr fähig, wie sich 828 am Flottenvorstoß des Grafen Bonifaz von Lucca an die Küste des heutigen Tunesien zeigte. Aber die größere Schlagkraft und vor allem das Gesetz des Handelns lagen doch bei den Muslimen, die 827 im byzantinischenSizilien an Land gingen und in zähen Kämpfen, die sich bis 902 hinzogen, schließlich die ganze Insel in ihre Hand bekamen. Von Sizilien aus unternahmen sie Raubzüge entlang der tyrrhenischen und provenzalischen Küste, wobei ein Überfall von der Tibermündung auf Außenbezirke der Stadt Rom mit den Basiliken St. Peter und St. Paul 846 besonderes Aufsehen erregte. Weiter ostwärts setzten sich die Sarazenen für Jahrzehnte in Bari und Tarent fest, und als sie von dort 871 bzw. 880 vertrieben worden waren, schufen sie sich sogleich im Tal des Garigliano (oberhalb von Gaeta) einen neuen festen Stützpunkt, von dem aus sie das Landesinnere Mittelitaliens heimsuchten und u.a. die Existenz des Klosters Montecassino für 60 Jahre unterbrachen. Auch die Küsten der Adria verschonten sie nicht, wo sie es mit den Schiffen der Venezianer aufzunehmen hatten, und den Byzantinern entrissen sie 870 die Insel Malta, nachdem schon 826 andere Araber von Ägypten aus Kreta okkupiert hatten. Historisch sind diese Aktionen in die epochenübergreifende Geschichte der Mittelmeerpiraterie einzuordnen, denn es ging nicht um den planvollen Aufbau eines in sich geschlossenen Seereiches und allenfalls mittelbar um die Ausbreitung des Islam.
6. Der Verlust der karolingischen Hegemonie
Als umfassender Rahmen der lateinischen Christenheit hat das Frankenreich Karls des Großen keinen langfristigen Bestand gehabt. Es ging nicht schlagartig unter, sondern löste sich durch Erbauseinandersetzungen in Teilreiche auf, deren Anzahl und Zuschnitt sich aus den familiären Geschicken des Herrscherhauses ergaben. Das Nebeneinander verschiedener Linien, die in unterschiedlichem Maße mit Thronanwärtern gesegnet waren, frühe Todesfälle ebenso wie die Langlebigkeit anderer Karolinger bestimmten die Entwicklung, die 887/88 in einer akuten dynastischen Notlage dazu führte, daß auch andere als die männlichen Nachkommen Karls mit Erfolg nach einer Königswürde greifen konnten und sodie dauerhafte Aufspaltung des Großreichs in kleine und mittlere Einheiten vollendeten. Für den Gang der europäischen Geschichte war es von fundamentaler Bedeutung, daß die christliche Welt des Westens – anders als die stets von Byzanz dominierte griechische Orthodoxie – seit dem späten 9. Jh. keinen in sich geschlossenen politischen Verband unter einem einzelnen Gebieter (auch nicht dem Kaiser) darstellte, sondern aus einer mit der Zeit zunehmenden Anzahl unterschiedlicher Reiche bestand.
Der Kampf um das Erbe Ludwigs des Frommen
Gemäß den von den Merowingern überkommenen Normen der Herrschaftsnachfolge hatte Karl der Große 806 in der Divisio regnorum allen drei aus seiner Ehe mit Hildegard († 783) hervorgegangenen Söhnen zu etwa gleichen Teilen das Frankenreich vermacht und bei seinem Tod (am 28. Januar 814 in Aachen) nur deshalb die Macht ungeteilt weitergeben können, weil zwei dieser Söhne inzwischen verstorben waren und einzig Ludwig der Fromme, bis dahin Unterkönig von Aquitanien und seit 813 bereits (Mit-)Kaiser, als Erbe übrigblieb. Daß er wie sein Großvater Pippin und sein Vater Karl für die Zeit einer weiteren Generation allein an der Spitze des Großreiches stand, war ein dynastischer Zufall, der nichts daran änderte, daß die Überzeugung vom Anrecht aller Königssöhne auf ein eigenes Erbteil der Macht in der
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