Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
stellt als Herrschaft heidnischer Khane, die streckenweise auch dynastisch legitimiert war, über eine höchstens zum geringen Teil christliche Bevölkerung einen Sonderfall im damaligen Europa dar, der fast zwei Jahrhunderte bestehen blieb (bis zur Taufe des Khans Boris 864/65). In dieser Zeit wußte das Bulgarenreich sich nicht bloß in wechselvollen Beziehungen mit Byzanz zu behaupten, sondern auch durch beharrliche Expansion nach Norden und Westen die Awaren als Vormacht auf der Balkanhalbinsel abzulösen. Der Höhepunkt war unter dem Khan Krum (803–814) erreicht, der 809 das antike Sardica (heute Sofia) einnahm und 811 den Byzantinern eine Niederlage zufügte, bei der Kaiser Nikephoros I. getötet wurde. Nach einem Friedensschluß von 814/16 war es Khan Omurtag (814–831), der 824/25 erstmals Gesandtschaften an den Hof Ludwigs des Frommen schickte, um die Grenze zwischen Franken und Bulgaren an Donau und Theiß zu vereinbaren. Tatsächlich kam es 828/29 zu bewaffneten Zwischenfällen an der Drau und erst 845 wieder zu einer bulgarischen Gesandtschaft, die Ludwig den Deutschen in Paderborn antraf. Ein ostfränkisch-bulgarisches Bündnis, das sich gegen Mähren richtete, stand in den frühen860er Jahren im Zusammenhang der Bemühungen des Khans Boris um eine eigenständige Hinwendung zum Christentum, die schließlich aber doch Bulgarien dauerhaft an die Seite von Byzanz führten.
Bei ihrem Drang nach Nordwesten stießen die Bulgaren, die schon viele slawische Gruppen aufgesogen hatten, mit werdenden Völkern zusammen, die im 9. Jh. eben deshalb aus dem Dunkel der Vorgeschichte heraustraten, weil sich ihre Anführer den Großmächten des Westens und des Ostens erfolgreich widersetzten. Das gilt von den Kroaten, die zwar nicht in Pannonien, aber im Hinterland der dalmatinischen Küste eine herrschaftliche Kontinuität schufen, beginnend mit dem Fürsten Mislaw († 845) in Klis (bei Split) und seinem Nachfolger Trpimir I. (845–864), der urkundlich als
dux Chroatorum
auftrat und das (lateinische) Bistum Nin begründete. Ähnliches wird für dieselbe Zeit über die Serben in einer prominenten byzantinischen Quelle des 10. Jhs. überliefert, die vom heidnischen Norden das «getaufte Serbien» im Süden (heute Raszien, Amselfeld) unterscheidet[ 73 ]. Dort soll sich vor 850 im Kampf gegen die Bulgaren Vlastimir hervorgetan haben, dessen Sohn Mutimir (um 850–891) seine Brüder verdrängte und das Christentum in orthodoxer Form annahm. Die Nachfahren hatten größte Mühe, sich zwischen Kroaten, Bulgaren und Byzanz zu behaupten.
Auf Konstantinopel ausgerichtet erscheinen auch die Anfänge der großen ostslawischen Reichsbildung mit dem Zentrum Kiev, deren Name zuerst in einer lateinischen Quelle auftaucht. Im zeitgenössischen Bericht der westfränkischen Annales Bertiniani über eine 839 bei Ludwig dem Frommen in Ingelheim erschienene byzantinische Gesandtschaft ist von Männern aus dem Volk der
Rhos
die Rede, die im Auftrag ihres Königs (Kagan) um sicheres Geleit in ihre Heimat baten und von den Franken als Schweden (
Sveones
) identifiziert wurden[ 74 ]. Damit zu verbinden sind die Nachrichten der im frühen 12. Jh. aufgezeichneten sog. Nestor-Chronik, die den Beginn der eigenen Geschichte mit dem Jahr 852 (irrig für 842?) ansetzt und bald danach von zwei Warägern (skandinavischen Berufskriegern) erzählt, die das befestigte Kiev in Besitz genommen, weitere Waräger nachgeholt, die dort ansässigen slawischen Poljanenunterworfen und von der Tributpflicht gegenüber den (bis dahin dominierenden) Chazaren befreit hätten[ 75 ]. Schon 860 sollen die in der Chronik mit den Warägern gleichgesetzten Rus Konstantinopel durch einen (im letzten Augenblick gescheiterten) Flottenangriff aufgeschreckt haben, was dort gut bezeugte Bemühungen um eine Bekehrung «der räuberischen, für ihre Grausamkeiten bekannten Rus zum Christentum» auslöste[ 76 ]. Das altrussische Fürstengeschlecht führt die Nestor-Chronik auf drei warägische Brüder zurück, die sich die zerstrittenen bodenständigen Stämme von jenseits des Meeres als Herrscher herbeigerufen hätten und die zunächst im Norden um den Ladogasee und Novgorod Fuß faßten. Rjurik († angeblich 879) überlebte seine Brüder und wurde zum Stammvater der Dynastie. Sein Verwandter Oleg († 912/13) stieß 882 bis Kiev vor, vertrieb die dortigen Waräger und erreichte nach einem militärischen Vorstoß auf Konstantinopel 911 einen günstigen Handelsvertrag
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