Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
Führungsschicht tief verwurzelt blieb, auch nachdem 800 das fränkische Königtum zur römischen Kaiserwürde gesteigert worden war, die keine Aufteilung vertrug. Ludwig, der mit drei Söhnen in Aachen Einzug hielt, hat in seinen frühen Jahren, beraten von seiner geistlichen Umgebung, den Versuch gemacht, dem Kaisertum dauerhaft den Vorrang zu verschaffen, indem er 817 in der sogenannten Ordinatio imperii «gemäß dem Wink des allmächtigen Gottes» anordnete[ 77 ], daß seinem Ältesten, Lothar I., zusammen mit der imperialen Würde der größte Teil des Reiches, vor allem die gesamte
Francia
, zustehen sollte, während sich die jüngeren Söhne Pippin und Ludwig mit bestimmten Erweiterungen ihrer peripheren Unterherrschaften in Aquitanien bzw. Bayern begnügen sollten. Die Abstufungkam auch darin zum Ausdruck, daß die jüngeren Brüder dem Kaiser regelmäßig Bericht zu erstatten haben würden, nur mit seiner Zustimmung heiraten durften und sich der Reichsversammlung als ungeteiltem Forum der Zentralgewalt beugen mußten. Um weiterer Zersplitterung zu entgehen, wurde festgelegt, daß die beiden Unterkönigreiche ebenso wie das Kaisertum stets nur an einen Erben fallen konnten, gegebenenfalls also unter mehreren Söhnen oder Brüdern eine Wahl der Großen stattzufinden hätte. Die zweifellos traditionswidrige Regelung, die darauf hinauslief, die Machtverteilung von der dynastischen Entwicklung zu lösen, war nicht so sehr der Sorge um die Reichseinheit geschuldet, die von niemandem bedroht war, solange die Herrscherfamilie zusammenhielt, wie vielmehr dem Wunsch nach einem eindeutigen und wirksamen Vorrang des Kaisertums, dessen Aufspaltung laut Vorrede ein Ärgernis in der heiligen Kirche heraufbeschwören und sogar Gott beleidigen würde, in dessen Macht alle Reiche lägen.
Ein Erfolg dieses Zukunftskonzepts wäre von erheblicher historischer Tragweite gewesen, ist aber ausgeblieben, nicht nur weil Ludwig dem Frommen 823 in zweiter Ehe noch ein vierter Erbe namens Karl (der Kahle) geboren wurde, der in der Ordinatio nicht vorgesehen war; mehr noch fiel ins Gewicht, daß es auf die Dauer an einer breiten Akzeptanz des Plans bei den Großen und an der Bereitschaft der jüngeren Kaisersöhne zu lebenslanger Bescheidenheit mangelte. Sobald ab 829 im näheren Umfeld des Kaisers offene Zerwürfnisse zutagetraten, nicht zuletzt verursacht durch das (legitime) Streben der Kaiserin Judith nach Ausstattung ihres heranwachsenden Sohnes auf Kosten der älteren Stiefbrüder, zeigte sich, daß unzufriedene Adelsgruppen und verärgerte Mitglieder der Kaiserfamilie schnell zueinander fanden. So kam es 830 zu einer gemeinsamen Fronde der drei älteren Söhne gegen ihre Stiefmutter und deren Anhang, was zur zeitweiligen Entmachtung Ludwigs des Frommen führte und den Junior-Kaiser Lothar ans Ruder brachte. Aber schon nach wenigen Monaten gelang es dem kaiserlichen Vater, die Söhne Pippin und Ludwig, indem er ihnen eine Vergrößerung ihrer Erbteile versprach, auf seine Seite zu ziehen, und den isolierten Lotharnach Italien abzudrängen. Im Grunde war damit bereits die Ordinatio imperii von 817 zu Fall gebracht und das künftige Herrschaftsgefüge dem freien Spiel der Kräfte in wechselnden Allianzen überlassen. 833 sah sich Ludwig der Fromme abermals einer Rebellion seiner drei älteren Söhne gegenüber, die sich nicht länger mit ungewissen Erbaussichten hinhalten lassen mochten, sondern auf eine sofortige Sicherung ihrer beanspruchten Anteile vor anderweitiger Vergabe durch den Vater bedacht waren und dafür auch den bewaffneten Kampf nicht scheuten. In der unmittelbaren Konfrontation auf dem «Lügenfeld» bei Colmar setzten sich die Söhne, in deren Lager sich auch Papst Gregor IV. befand, kampflos durch, da Ludwig von seinen Truppen verlassen wurde und damit faktisch entthront war. Vollendet werden sollte sein Sturz durch eine Bischofsversammlung, die im Oktober 833 in Compiègne und Soissons feststellte, Ludwig habe «das ihm übertragene Amt unzulänglich verwaltet»[ 78 ], und ihn nach einem Schuldgeständnis in den Stand der Büßer verwies, doch leitete gerade diese ostentative Demütigung den erneuten Umschwung ein, der durch Uneinigkeit der Brüder über ihre Herrschaftsgebiete noch beschleunigt wurde. Bereits im Frühjahr 834 nötigte der Vormarsch von Pippins und Ludwigs Heeren Lothar zur Freigabe des Vaters, der in Saint-Denis feierlich wieder als Kaiser eingesetzt wurde und seinen Ältesten ein weiteres Mal
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