Christmasland (German Edition)
Rolls-Royce leuchtete golden. Staubpartikel funkelten im Sonnenlicht. Wayne wedelte mit der Hand und sah sie tanzen wie Sandkörnchen im Wasser …
Seine Mutter war in den See gesprungen, um dem Gasmaskenmann zu entkommen. Bei der Erinnerung daran zuckte er zusammen. Einen Moment lang spürte er wieder die entsetzliche Furcht des V ortages, als hätte er eine ungeschützte Stromleitung angefasst und einen Schlag bekommen. Was ihm Angst einjagte, war weniger die Tatsache, dass er Charlie Manx’ Gefangener war, sondern eher, dass er das einen Moment lang ganz vergessen hatte. Er hatte sich blenden lassen und war beinahe glücklich gewesen.
Sein Blick fiel auf die Walnussholzschublade unter dem Sitz vor ihm, wo er sein Handy versteckt hatte. Dann sah er hoch und bemerkte, dass Manx ihn mit einem leisen Lächeln im Rückspiegel beobachtete. Wayne sank auf die Bank zurück.
»Sie haben gesagt, dass Sie mir einen Gefallen schulden«, sagte Wayne.
»Das ist richtig«, sagte Manx.
»Ich möchte meine Mutter anrufen. Ich will ihr sagen, dass es mir gut geht.«
Manx nickte, eine Hand am Lenkrad. War das Auto gestern wirklich von selbst gefahren? Wayne meinte sich zu erinnern, dass sich das Lenkrad von allein gedreht hatte, während der Gasmaskenmann Manx’ Gesicht verarztet hatte. Aber die Erinnerung wirkte irgendwie hyperreal, wie die Träume, die man bei einer besonders schweren Grippe manchmal hatte. Jetzt, im hellen Licht des Morgens war Wayne sich nicht sicher, ob das wirklich passiert war. Langsam wurde es auch wärmer. Sein Atem bildete keine Wölkchen mehr.
»Natürlich möchtest du sie anrufen und sie wissen lassen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Das ist doch ganz klar! Wenn wir erst mal angekommen sind, wirst du sie wahrscheinlich jeden Tag anrufen wollen. Und gewiss wird sie auch wissen wollen, wie es dir geht. Ich werde dir deinen Wunsch so bald wie möglich erfüllen, versprochen. Welcher Unmensch würde einem Kind verwehren, die eigene Mutter anzurufen? Leider gibt es hier nirgendwo ein Telefon, und wir haben auch kein Handy dabei«, sagte Manx. Er drehte sich um und sah Wayne über die Trennwand hinweg an. »Du hast wahrscheinlich auch keines in der Tasche, oder?«, fragte er mit einem Lächeln.
Er weiß es, dachte Wayne. Einen Moment lang zogen sich ihm die Eingeweide zusammen, und er hatte das Gefühl, gleich weinen zu müssen.
»Nein«, sagte er, und seine Stimme klang beinahe normal. Er musste sich Mühe geben, die Schublade zu seinen Füßen nicht anzusehen.
Manx blickte wieder auf die Straße. »Na gut. Es ist sowieso zu früh, um sie anzurufen. Es ist noch nicht mal sechs, und nach dem anstrengenden Tag, den sie gestern hatte, sollten wir sie besser ausschlafen lassen!« Er seufzte und fügte hinzu: »Deine Mutter hat mehr Tätowierungen als ein Seemann.«
»Es war mal ’ne Frau aus Eight Mile mit Tattoos auf dem Hinterteil«, sagte der Gasmaskenmann. »Und damit selbst die Blinden ihren Hintern noch finden, ziert ihn auch ein Sprüchlein in Braille.«
»Sie reimen zu viel«, sagte Wayne.
Manx lachte – ein lautes, unfeines Wiehern – und schlug mit der Hand aufs Lenkrad. »Da hast du wohl recht! Der gute alte Bing Partridge ist ein Reimdämon! In der Bibel steht, dass es sich dabei um die niederste Form von Dämonen handelt. Aber sie sind trotzdem ganz nützlich.«
Bing lehnte sich mit der Stirn gegen das Fenster und blickte hinaus. Draußen waren grasende Schafe zu sehen.
»Mäh, mäh, schwarzes Schaf«, sang Bing vor sich hin. »Hast du etwas Wolle?«
»Die Tätowierungen deiner Mutter«, sagte Manx.
»Ja?«, sagte Wayne. Wenn er in der Schublade nachsah, würde er wahrscheinlich feststellen, dass sein Handy weg war. V ermutlich hatten Manx und der Gasmaskenmann es herausgeholt, während er geschlafen hatte.
»Es mag altmodisch klingen, aber ich sehe sie als Einladung an Männer von schlechtem Charakter, sie anzustarren. Glaubst du, deiner Mutter gefällt diese Art von Aufmerksamkeit?«
»›Es war mal ’ne Hure aus Frisco‹«, flüsterte der Gasmaskenmann und kicherte leise vor sich hin.
»Die Tätowierungen hat sie, weil’s schön aussieht«, sagte Wayne.
»Hat dein V ater sich deshalb von ihr scheiden lassen? Weil es ihm nicht gefallen hat, wie sie mit ihren nackten, tätowierten Beinen die Blicke der Männer auf sich gezogen hat?«
»Er hat sich nicht von ihr scheiden lassen. Sie waren nie verheiratet.«
Manx lachte erneut. »Na, das überrascht mich nicht.«
Sie
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