Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
die Männer könnten es hören. Auch wenn sie ahnte, dass Whittler recht hatte und sie tatsächlich in der Wildnis verloren wäre, gab sie nicht auf. Alles war besser, als diesem Scheusal in die Hände zu fallen, sogar ein gefährlicher Marsch durch die Wildnis.
»Vielleicht kann sie uns nicht hören«, sagte der Schaffner.
»Unsinn! Weit kann sie auf keinen Fall sein.«
»Ich weiß, dass du mich hören kannst!«, rief Whittler in den Wald hinein. »Du hast noch zwei Minuten, um aus deinem Versteck zu kommen, sonst überlassen wir dich den Wölfen. Komm zurück, und ich will vergessen, dass du vor dem Gesetz geflohen bist. So machst du alles nur noch schlimmer!«
Clarissa spürte, wie die Kälte durch ihren Mantel kroch. Ein leichter Windstoß trieb Schnee über sie. Wie feiner Sprühregen fiel er auf sie herab.
»Verdammtes Miststück!«, fluchte Whittler leise.
Über ihr wurden Schritte laut, und sie hatte schon Angst, die Männer könnten sie in ihrem Versteck entdecken, doch sie vertraten sich nur die Beine. Obwohl der Wind zwischen den Bäumen kaum zu spüren war, setzte die Kälte sogar dem abgehärteten Lokführer zu. Der Schaffner zitterte hörbar.
»Die drei Minuten sind um!«, tönte Whittlers Stimme über Clarissa hinweg. »Wenn du lieber erfrieren willst, bitte sehr! Wir verschwinden jetzt!«
»Aber das können Sie nicht tun, Sir!«, hörte sie die ungläubige Stimme des Schaffners. »Hier draußen erfriert sie! Das wäre … das wäre doch …«
»… Mord?«, ergänzte Whittler höhnisch. »Ich würde eher sagen: Dummheit! Selbst eine einfache Frau wie sie müsste doch erkennen, dass man in dieser Wildnis nicht überleben kann. Jedenfalls nicht, wenn man eine Frau ist und weder Vorräte noch eine Waffe besitzt. Ausgerechnet jetzt, wo der Winter kommt.« Er blickte anscheinend den Lokführer an. »Stimmt doch, Joe?«
»Sie würde nicht mal diese Nacht überleben«, antwortete der Lokführer. Auch er war wohl mit dem brutalen Vorgehen von Whittler nicht einverstanden. Er räusperte sich verlegen. »Ich will Ihnen nichts vorschreiben, Sir, aber der Schaffner hat recht. Wir machen uns doch strafbar, wenn wir sie jetzt allein lassen. Das wäre doch …« Er suchte nach dem passenden Wort, wollte seinen Chef anscheinend nicht beleidigen. »Es wäre … unmenschlich.«
»Unmenschlich?«, fuhr Whittler den Lokführer an. »Ich erkläre mich bereit, ihr die zusätzliche Strafe zu erlassen, wenn sie aus ihrem Versteck kommt, und Sie nennen das unmenschlich? Sie ist eine Diebin! Sie hat ihre Stellung ausgenutzt, um mich auf schamlose Weise zu betrügen. Sie hat kein Mitleid verdient. Wenn sie hier unbedingt erfrieren will … Meinetwegen! Oder wollen Sie die ganze Nacht nach ihr suchen? Die Passagiere warten auf uns!«
Jetzt erhob der Lokführer seine Stimme. »Kommen Sie zurück, Miss! Kommen Sie, bevor es zu spät ist! Mister Whittler meint es ernst. Sie erfrieren, wenn Sie ihm nicht gehorchen. Hier verirrt man sich leicht. Haben Sie keine Angst, Sie bekommen sicher eine faire Gerichtsverhandlung. Selbst nach einer Gefängnisstrafe haben Sie doch noch Ihr ganzes Leben vor sich!«
»Hören Sie auf ihn, Miss!«, rief auch der Schaffner.
»Also, ich habe jetzt genug«, reagierte Whittler unwirsch, als sie wieder nicht erschien, »ich kehre jetzt um. Und Sie sollten mit mir kommen, falls Sie morgen nicht Ihre Kündigung haben wollen. Wir haben schon genug Verspätung.« Seine Schritte entfernten sich. »Worauf warten Sie? Sie ist doch selbst schuld! Aber keine Bange! Sobald wir in Ashcroft sind, schicke ich einen Suchtrupp los, der wird sie schon finden. So schnell stirbt es sich nicht.«
»Ashcroft? Bis der Suchtrupp hier ist, kann es schon zu spät sein«, sagte der Lokführer. »Und wer weiß, ob die Männer sie tatsächlich finden? In den Cascades könnten ganze Armeen verschwinden, ohne dass jemand es merkt.«
»Die finden sie, keine Angst! Kommen Sie endlich!«
Clarissa wartete nervös, bis sich die Schritte der Männer entfernt hatten und ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren. Doch selbst dann wagte sie noch nicht, ihr Versteck zu verlassen. Zu groß war die Angst, einer der Männer könnte umgekehrt sein und doch nach ihr suchen. Erst als die Lokomotive ihr schrilles Signal in die Wildnis schickte und das ferne Schnauben der Lokomotive zu hören war, stemmte sie sich auf die Knie und stand ächzend auf.
Steif und ungelenk blieb sie stehen. Die Kälte war bis unter ihre Kleider gekrochen
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