Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen, und glaubte schon nach wenigen Schritten, die aufgeregten Stimmen ihrer Verfolger zu hören. Warum musste der Zug auch stehen bleiben? Warum musste sie mitten in der Wildnis stranden, immer noch in Reichweite ihres Peinigers? Warum zeigte Gott kein Einsehen mit ihr?
Sie blieb neben einem Baum stehen und spähte verzweifelt in den Wald hinein. Die Spuren der Holzsucher verteilten sich einige Schritte vor ihr im Unterholz und verliefen im Nichts. Wenn sie weiterlief, hätten ihre Verfolger leichtes Spiel. Sie drehte sich um und lauschte. Rasche Schritte, durch den Schnee gedämpft, und das Knacken von Zweigen drangen durch den Wald. Sie waren dicht hinter ihr. Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, war sie verloren und würde im Gefängnis genug Zeit haben, um über ihr Pech nachzudenken.
In ihrer Verzweiflung folgte sie einer Spur, die einer der Männer hinterlassen hatte. Sie führte am weitesten in den Wald hinein. Sie duckte sich unter einigen tief hängenden Zweigen hinweg, wischte sich den Schnee vom Gesicht, als sie einen der Zweige mit ihrer Mütze streifte, und rannte weiter, in ihrer aufkommenden Panik jetzt blindlings und ohne festes Ziel. Ein vermeintliches Unglück verschaffte ihr eine weitere Chance. Auf einem Abhang stürzte sie über einen mächtigen, auf dem Boden liegenden Baumstamm und blieb liegen. Sie war so benommen, dass sie es nicht mehr schaffte, rechtzeitig aufzustehen. Ihre Verfolger waren zu nahe. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich dicht an den moosbewachsenen und von Schnee und Eis bedeckten Baumstamm zu pressen und zu hoffen, dass sie niemand entdeckte.
Sie lag flach auf dem frostigen Boden, ihren Körper gegen den Baumstamm gepresst und von wachsender Panik erfüllt. Sie wollte nicht nach Vancouver zurück und für ein Verbrechen büßen, das sie nicht begangen hatte. Sie wollte dem Mann, der sie belästigt und beinahe vergewaltigt hatte, nicht diese Genugtuung verschaffen. So unnachgiebig und verbohrt, wie sie ihn bisher kennengelernt hatte, würde er sich nicht damit begnügen, sie ins Gefängnis sperren zu lassen. Er würde dafür sorgen, dass sie in ein besonders strenges Gefängnis mit gefährlichen Mörderinnen und Verbrecherinnen kam und jeden Tag die Hölle auf Erden erlebte. Allein das spöttische Gelächter seiner Freunde und Bekannten, die sich darüber lustig machten, dass er sich von einem einfachen Dienstmädchen überwältigen ließ, würde ihn dazu zwingen, sich an ihr zu rächen. Die Demütigung, die sie ihm zugefügt hatte, würde er ohne Rache niemals verwinden.
Die Verfolger kamen näher und blieben nur wenige Schritte vor dem umgestürzten Baumstamm stehen. Clarissa konnte sie nicht sehen, aber hören. Einer der Männer, sicher der eher schwache Schaffner, keuchte angestrengt.
»Die … die kriegen wir nicht … nicht mehr«, stammelte er.
»Eine Frau?« Die ungläubige Stimme des Lokführers. »Das glaubst du doch selbst nicht. Wo soll sie denn hin? Hier gibt’s weit und breit keine Stadt, nicht mal ein Dorf. Selbst wenn sie uns entkommen wäre, könnte sie hier nirgendwo unterkriechen. Bei einem Fallensteller in den Bergen vielleicht, aber so weit würde sie gar nicht kommen. Nicht im Winter, wenn es so schneit.«
»Verdammt!«, fluchte Whittler. »Wenn man wenigstens was sehen könnte und die verfluchte Kälte nicht wäre.« Im Gegensatz zu dem stämmigen Lokführer war er das Leben in der Wildnis nicht gewöhnt. »Wo kann sie denn nur sein?«
»Überall.« Wieder die Stimme des Lokführers. »Vor zwei Jahren war ich hier mit einigen Freunden jagen. Der Wald ist riesig. Zwei Stunden braucht man bis zum anderen Ende, wenn es hell ist, wohlgemerkt, und bis zur nächsten Siedlung sind es vier, fünf Stunden, bei dem Wetter sogar noch länger.«
»Hast du das gehört, Clarissa?«, rief Whittler so laut, dass man es noch in weiter Ferne gehört hätte. »In den Wald zu laufen, bringt dir nichts! Hier gibt es weit und breit keine Siedlung! Komm zurück, wenn dir dein Leben lieb ist, oder willst du erfrieren oder von wilden Tieren angefallen werden? Ich gebe dir drei Minuten, Clarissa! Wenn du dann nicht hier bist, drehen wir um, und du kannst sehen, wo du bleibst! Der Lokführer kennt sich aus. Hier ist nichts! Allein in der Wildnis hast du keine Chance! Sei vernünftig! Komm zurück!«
Clarissa schmiegte sich noch enger an den Baum und wagte kaum zu atmen. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie befürchtete,
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