Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
nur noch mit den Achseln, wenn ihn jemand nach der Lokomotive fragte. Sie würde wohl doch erst am frühen Morgen eintreffen, und sie mussten sich die Nacht entweder im Stehen oder auf einem Felsen sitzend um die Ohren schlagen. Für die älteren Passagiere hatte der Schaffner eine Plane und weitere Decken geholt, damit sie wenigstens ein bisschen vor Schnee und Kälte geschützt waren.
Während der Spieler an der Felswand lehnte, den unvermeidlichen Zigarillo zwischen den Lippen, und sich mit einem anderen Gentleman über die besten Restaurants in Calgary austauschte, vertrat sich Clarissa die Beine. Sie stieg den Pfad zum Bahndamm hoch und blickte über den Zug hinweg zu den Bergen empor, deren schneebedeckte Gipfel das wenige Licht reflektierten und auf die endlosen Fichtenwälder abfärbten, die sich unterhalb der Berge durch die Täler zogen. Die verschneiten Bäume spiegelten sich in den Fenstern des Zuges. Vom Ufer drang der flackernde Feuerschein herauf. Der Schaffner hatte alle Lichter gelöscht und rote Warnlaternen an die Spitze und das Ende des Zuges gehängt, um näher kommende Lokomotiven zu warnen.
Sie ging am Zug entlang, betrachtete die Lokomotive mit dem trichterförmigen Schornstein und folgte einer inneren Stimme auf die andere Seite des Zuges. Im Schatten der ersten Wagen blieb sie stehen. Ihr Blick folgte den Spuren der Männer, die Holz gesucht hatten, über die weite Lichtung zum Waldrand und blieb an den schattenhaften Umrissen eines Tieres hängen, das für einen Moment im Schnee verharrte und sie aus schmalen Augen anzustarren schien, bevor es gleich darauf im Wald verschwand. Ein Wolf? Fast hatte es den Anschein, die Augen des Tieres waren gelb und schmal gewesen. Der Wolf, den der untersetzte Jäger am Vorderlauf verwundet hatte? Unmöglich! So weit konnte er in dieser kurzen Zeit und mit seiner Verletzung nicht gelaufen sein. War sie schon so müde, dass sie einer Sinnestäuschung erlag?
Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem Geräusch abgelenkt. Ein leises Fauchen, selbst in der stillen Nacht kaum zu hören, dann immer lauter und schließlich ein durchdringender Pfiff, der das ganze Tal auszufüllen schien und unverkennbar zu einer Lokomotive gehörte. Durch die Bäume war flackerndes Licht zu sehen, die Kopflampe einer schweren Dampflok, die mit einem hell beleuchteten Personenwagen aus dem Wald kam und sich dem haltenden Zug näherte. Als der Lokführer die Warnlampe erkannte, betätigte er den Bremshebel und brachte die Lok keuchend und zischend zum Stehen.
Nicht nur, weil ihr der Personenwagen verdächtig vorkam, auch ein seltsames Bauchgefühl, das sie nicht genau bestimmen konnte, hielt sie davon ab, aus dem Schatten der Wagen zu treten und der Lokomotive entgegenzulaufen. Sie verharrte ruhig in ihrer Deckung und beobachtete, wie der Lokführer aus seinem Führerstand kletterte und zum Wagen zurücklief. Außerhalb ihres Blickfeldes öffnete er die Tür und half einem Mann heraus. »Ich hoffe, Sie hatten eine einigermaßen angenehme Fahrt«, hörte sie den Lokführer sagen.
Vom Feuer kamen der Lokführer, der Schaffner und die Passagiere herauf. Im Lichtschein, der aus dem Wagen drang, erkannte sie ihre müden und blassen Gesichter. »Na, endlich!«, rief jemand. »Wurde auch langsam Zeit!« Ein Mann rief wütend: »Dafür verlange ich eine Entschädigung, sonst gehe ich vor Gericht!«
»Nun reg dich doch nicht auf, Jack«, antwortete eine Frauenstimme, »so schlimm war es nun auch wieder nicht. Der Schaffner hat doch getan, was in seiner Macht stand.« In ihrem Mann rumorte es anscheinend: »Mindestens ein Abendessen sind sie uns schuldig!«
Der Schaffner blieb erstaunt stehen und starrte anscheinend den Mann an, der aus dem Wagen gestiegen war und immer noch außerhalb ihres Blickfelds stand. »Sind Sie nicht … Sie sind doch Frank Whittler, der Sohn des Chefs!«
Clarissa stockte der Atem. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Frank Whittler in den Lichtschein trat und dem Schaffner die Hand schüttelte. »Ganz recht, Frank Whittler. Ich werde künftig im Management der Canadian Pacific tätig sein und einen Teil der Verantwortung übernehmen.« Er wandte sich an die Passagiere. »Ladies and Gentlemen«, begrüßte er sie, »im Namen der Canadian Pacific darf ich mich ganz herzlich bei Ihnen entschuldigen und Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, um Ihnen den Rest der Reise so angenehm wie möglich zu gestalten. Seien Sie versichert, dass es sich bei dem Defekt
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