Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
einen Fetzen von ihrem Unterrock und träufelte etwas Whiskey darauf. »Das brennt jetzt ein bisschen, aber es muss sein. Wenn die Wunde schmutzig ist, kann sie sich entzünden, und das willst du doch nicht.«
Sie wischte vorsichtig das getrocknete Blut von seinem Fell und säuberte die Wunde. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen, hielt aber still. Sie war keine Tierärztin und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ein Wolf auf eine so starke Prellung und eine Streifschusswunde reagierte, nahm aber an, dass es richtig war, die Wunde zu desinfizieren. Anschließend schmierte sie Wundsalbe darauf und wickelte einen Verband darum. Erst sehr viel später würde sie bei dem Gedanken erschaudern, einen erwachsenen Wolf verarztet zu haben, ihm so nahe gewesen zu sein, dass sie seinen Atem gespürt hatte.
»So, das dürfte genügen«, sagte sie nach getaner Arbeit. Sie tätschelte seinen Hals und brachte ihn mit einem Klaps dazu, sich zu erheben. Er blieb zögernd stehen, humpelte ein paar Schritte und drehte sich noch einmal zu ihr um. Mit einem Blick aus seinen sonst so berechnenden Augen dankte er ihr.
Sie wartete, bis er verschwunden war, griff nach der Whiskeyflasche und stand auf. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und atmete die eiskalte, aber frische Luft ein. Am Himmel standen nur noch wenige Wolken, lediglich weit im Westen schimmerten einige Wolken im Licht der untergehenden Sonne. Die verschneiten Gipfel der Berge, die das Tal im Norden begrenzten, glänzten im abnehmenden Licht. In den Schluchten und am Waldrand lagen schwarze Schatten. Im gefrorenen Bach knackte es, ein winziges Tier ließ sich am Ufer blicken und verschwand wieder, und von den Bäumen im Osten drang das Krächzen eines Raben herüber. Der Wind hatte abgenommen und sang nur noch gelegentlich in den Baumkronen.
Wie schön und scheinbar unberührt diese Wildnis doch war. So nahe war Clarissa der Schöpfung noch nie gewesen, weder auf ihren Ausritten in die Umgebung der Farm ihres Onkels noch auf ihren Ausflügen nach Vancouver Island. Auf dem Meer vielleicht, wenn sie mit ihrem Vater unterwegs gewesen war. Wenn sich das Meer bei ruhigem Seegang wie ein Spiegel nach allen Seiten ausbreitete und man meilenweit nichts als Wasser sehen konnte. So muss die Natur direkt nach der Schöpfung ausgesehen haben, überlegte sie, so grenzenlos und weit wie das Meer, so gewaltig und urwüchsig wie diese Berge. Der Fallensteller hatte sich einen idealen Platz für seine Hütte ausgesucht. Schöner und eindrucksvoller konnte auch das Paradies nicht sein.
Sie blickte noch einmal zum Wald zurück, konnte den Wolf aber nicht mehr sehen und ging ins Haus. Im Küchenschrank fand sie Kaffee, nicht gerade ihr Lieblingsgetränk, aber irgendetwas Warmes brauchte sie, und etwas Käse und einige Cracker. Ausreichend für einen schmackhaften Imbiss. Sie brühte den Kaffee in der blechernen Kanne auf und verzog schon beim ersten Schluck das Gesicht, zum Glück entdeckte sie eine Zuckerdose und Dosenmilch.
Nach dem Essen nahm sie den Besen, der hinter dem Vorhang lehnte, und fegte die Hütte aus, mit einem Lappen wischte sie die Möbel sauber. Sie goss das schmutzige Wasser aus der Schüssel hinters Haus, füllte sie mit Schnee und stellte sie auf das Tischchen neben dem Ofen. In dem Wasser im Eimer, das sie auf der Herdplatte erhitzte, spülte sie das Blechgeschirr. Sie wusch die schmutzige Wäsche, auch wenn sie nirgendwo Kernseife finden konnte, hängte sie über die Schnur, an welcher der Vorhang befestigt war, und trocknete sich zufrieden die feuchten Hände ab. So konnte sich die Hütte wieder sehen lassen. Sie musste sich dem Fallensteller irgendwie erkenntlich zeigen.
Er würde sicher bald zurückkehren. Sie hatte gehört, dass Fallensteller alle paar Tage ihre Fallen abfuhren und unterwegs in kleinen Zelten übernachteten, aber länger als ein paar Tage waren sie nie unterwegs. Den Gedanken daran, was dann passieren würde, verdrängte sie. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr der Besitzer der Hütte begegnen würde. Gut möglich, dass er von der flüchtigen Diebin gehört hatte und sie nach Ashcroft brachte, weil er sich eine Belohnung von der Canadian Pacific erhoffte. Oder er verjagte sie und zwang sie, sich allein in der Wildnis zu behaupten. Auch unter den Fallenstellern gab es Männer, denen man besser nicht begegnete. An die anderen Möglichkeiten wagte sie gar nicht zu denken. Nicht nur wohlhabende Männer vergriffen sich an Frauen, auch übermütige
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