Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Westen den orangefarbenen Schimmer der untergehenden Sonne zwischen den Wolken sehen. Seitdem sie die Hütte betreten hatte, waren über zwölf Stunden vergangen. Die Petroleumlampe brannte kaum noch.
Sie stand auf und reckte sich seufzend. Der nächtliche Gewaltmarsch steckte ihr immer noch in den Knochen. Als sie in die Spiegelscherbe über der Kommode blickte, erschrak sie ein wenig über ihre zerzausten Haare und ihr gerötetes Gesicht und musste gleichzeitig über ihren dunklen Rock und ihre weiße Bluse lachen. Nicht gerade die Kleidung einer Frau, die sich in der Blockhütte eines Fallenstellers einquartiert hatte. Sie band ihre Haare mit einem Band aus ihrer Rocktasche im Nacken zusammen, spritzte sich etwas Wasser aus dem Eimer ins Gesicht und putzte sich die Zähne mit einem Zeigefinger. So wird nie eine Lady aus mir, überlegte sie lächelnd. Sie trocknete sich mit einem Handtuch ab, das am Fußende des Bettes lag, und ging zum Ofen, wo sie neue Holzscheite nachlegte und das Feuer wieder aufflackern ließ.
Während sie die Ofentür schloss, hatte sie plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich erschrocken um und wandte sich zum Fenster, wischte den Beschlag von der Scheibe und starrte in die gelben Augen des Wolfes, dem sie das Leben gerettet hatte. Der gelbe Lichtschimmer aus ihrem Traum! Verwirrt blieb sie stehen, sie konnte nicht glauben, dass er sie in dieser Einsamkeit aufgespürt hatte, und doch war es dieser ganz besondere Wolf, das erkannte sie an seinem Humpeln, als er einen Schritt auf sie zu machte, seinem silbrigen Fell und dem hageren und doch muskulösen Körper.
»Hey, Bones «, flüsterte sie, »was tust du denn hier? Du könntest dir ruhig mal wieder was zu fressen besorgen. Siehst ja schon ganz ausgehungert aus.«
» Bones … Knochen. Der Name war wie von selbst über ihre Lippen gekommen, weil der Wolf so knochig und ausgehungert aussah. Seltsamerweise hatte sie keine Angst vor ihm, im Gegenteil, sie fühlte sich auf seltsame Weise zu ihm hingezogen, vielleicht weil sie Mitleid für ihn empfand. In seinen Augen meinte sie so etwas wie Zuneigung zu erkennen. Er schien zu wissen, dass ihr Schrei den Wolfsjäger aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, dass seine Kugel deshalb danebengegangen war und ihn nur verwundet hatte.
Sie handelte beinahe automatisch, kramte so lange in den Schubladen der Kommode, bis sie Wundsalbe und einen einigermaßen sauberen Verband fand. Im Küchenschrank entdeckte sie eine halbvolle Flasche Whiskey. Ohne sich über das Risiko, das sie einging, im Klaren zu sein, öffnete sie die Tür und ging langsam auf Bones zu. Jetzt wurde ihr doch etwas mulmig, und sie wäre am liebsten wieder ins Haus gerannt, doch dazu war es zu spät. Ihr blieb nichts anderes übrig als zu lächeln. »Sag bloß, du bist mir die ganze Zeit gefolgt. Hast du denn kein Rudel, das sich um dich kümmert? Bist du einer dieser Einzelgänger, von denen mein Onkel erzählt hat?«
Der Wolf gab ihr keine Antwort, drehte sich langsam im Kreis, als wollte er nach seinem Schweif schnappen, und blieb leise jaulend stehen. Seine Ohren waren aufgestellt, sein Schweif verschwand zwischen den Beinen. Ohne zu wissen, dass eine solche Haltung seine Demut ausdrückte, erkannte Clarissa, dass der Wolf ihr vertraute und sich ihr unterordnete, zumindest im Moment.
Wenige Schritte vor dem Wolf ging sie in die Hocke. Sie stellte die Whiskeyflasche in den Schnee und lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich will dir helfen, Bones.« Sie hielt den Verband und die Salbe hoch. »Siehst du? Damit verbinde ich deine Wunde, dann kannst du bald wieder auf die Jagd gehen.«
Sie sah dem Wolf in die Augen und erkannte, dass keine Gefahr von ihm ausging. Anders als bei manchen Hunden und dem Wolf, den sie bei einem Ausritt beobachtet hatte, lag nichts Gefährliches in seinem Blick, nur Zuneigung und die Hoffnung, dass sie seine Schmerzen linderte. Humpelnd kam er auf sie zu, beinahe so vertraulich wie der Hund ihres Onkels, der ihr sofort entgegengesprungen war, wenn er sie auf dem Kutschbock des ankommenden Wagens entdeckt hatte. Keine wilde Bestie wie in den Buffalo-Bill-Romanen.
»Keine Angst, Bones! Das haben wir gleich!« Sie brachte ihn dazu, sich hinzulegen, und fuhr vorsichtig mit der flachen Hand über seinen verletzten Vorderlauf. Der Knochen war vielleicht geprellt, aber nicht gebrochen. »Glück gehabt, die Kugel hat dich nur gestreift. Das dürfte in ein paar Tagen verheilt sein.« Sie riss
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