Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Fallensteller, wenn sie zu viel getrunken hatten.
Inzwischen war die Sonne untergegangen, und dunkle Schatten krochen in das Tal. Sie trat ans Fenster, einen Becher mit süßem und viel zu dünnem Kaffee in den Händen, und blickte zum Himmel empor, bestaunte die unzähligen Sterne, die wie Diamanten auf schwarzem Samt funkelten. In der Hütte war es wohlig warm, das Holz brannte im Ofen und knisterte jedes Mal, wenn ein Harzknoten zersprang. Trotz der Gefahren, die vor der Hütte lauerten, und der Bedrohung, die von Frank Whittler und seinen Männern ausging, fühlte sie sich wohl und sicher. Später würde sie oft an diesen Augenblick zurückdenken und behaupten, dass sie sich an diesem Abend in die Wildnis verliebt und beschlossen hatte, ihre Zukunft abseits der großen Städte zu verwirklichen.
Weil sie den ganzen Tag geschlafen hatte, blieb sie an diesem Abend lange auf. Im Schein der Petroleumlampe las sie die Abenteuer von Buffalo Bill und musste jedes Mal lachen, wenn der legendäre Westmann im Alleingang hundert Büffel schoss, bei voller Geschwindigkeit über die Wagendächer eines Zuges turnte oder allein gegen eine hundertfache Übermacht der kriegerischen Sioux antrat und eine schöne Frau vom Marterpfahl befreite. Viel lieber hätte sie in ihrem Tom-Sawyer-Buch gelesen, doch das lag in ihrer Reisetasche, und die würde sie wohl niemals mehr in die Hände bekommen. Auf das Buch konnte sie verzichten, doch das Hochzeitsfoto ihrer Eltern hätte sie gern gehabt. Sie tröstete sich damit, ihre Eltern in ihren Gedanken und Gebeten treffen zu können, wann immer sie wollte, unabhängig davon, wo sie sich gerade befand. Dieses Andenken konnte ihr auch Frank Whittler nicht nehmen.
Am nächsten Morgen wachte sie mit der Sonne auf. Sie wusch sich und zog sich an und trat in die frische Luft hinaus, um die letzte Müdigkeit zu vertreiben, als sie Bones aus dem Wald treten sah. Der Wolf lief ihr entgegen und wollte sie anscheinend begrüßen, als ein Schuss krachte und die Kugel dicht neben ihm den Schnee aufwirbelte. Er erschrak und rannte jaulend und mit eingezogenem Schweif davon. »Verschwinde!«, rief eine Männerstimme.
Gleich darauf erklang ein wütendes » Giddy-up! «, und ein Mann lenkte seinen Hundeschlitten vors Haus, ein rauchendes Gewehr in der freien Hand.
9
»Was fällt Ihnen ein?«, rief Clarissa vorwurfsvoll, als der Mann vom Schlitten sprang. »Sie hätten ihn beinahe getroffen! Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Der arme Kerl ist schwer verletzt! Er wollte mich doch nur begrüßen.«
Der Mann blickte sie verwundert an. »Begrüßen? Sie können froh sein, dass er Ihnen nicht an die Kehle gesprungen ist! Wölfe sind doch keine Schoßhündchen! Außerdem habe ich absichtlich vorbeigeschossen. Ich wollte ihn vertreiben, weiter nichts! Ich hab keine Lust, einen meiner Huskys zu verlieren, nur weil sich eine verrückte Lady um einen verletzten Wolf sorgt.«
»Ich bin nicht verrückt«, erwiderte sie trotzig. »Die Jäger, die auf den Wolf geschossen und ihn verletzt haben, sind verrückt. Wie krank muss man sein, um aus einem fahrenden Zug auf einen Wolf zu schießen? Wir sind doch nicht im Wilden Westen! Selbst einen Wolf quält man nicht auf diese Weise. Wenn ich das arme Tier nicht verarztet hätte, wäre es vielleicht schon tot.«
»Sie haben … was?«
»Was sollte ich denn sonst tun? Ihn vor meinen Augen verenden lassen? Er tauchte plötzlich vor der Hütte auf, da hab ich seine Wunde gesäubert und ihn verbunden. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber so war es tatsächlich.«
»Sie haben einen Wolf verarztet?« Er konnte es noch immer nicht fassen. »Wissen Sie, auf was Sie sich da eingelassen haben? Wie gefährlich so ein verletztes Tier ist? Sie können von Glück sagen, dass Sie noch leben! Der Einzige, der so verrückt war, einen kranken Wolf zu verarzten, war Sieht-hinter-die-Berge, ein Medizinmann der Shuswap, der mir am Fraser River über den Weg lief, und der konnte seine Gedanken lesen. Behauptete er jedenfalls. Sie sehen wie eine Städterin aus. Was wissen Sie von Wölfen?«
»Wenig«, gab sie zu, »aber ich kann erkennen, wenn ein Tier in Not ist und Hilfe braucht. Mit Gedankenlesen komme ich da nicht weiter.« Sie blickte ihn vorwurfsvoll an und errötete, als sie sein spöttisches Lächeln sah. Irgendetwas in den Augen des Fallenstellers brachte sie aus dem Gleichgewicht. »Ich bin Clarissa Howe«, sagte sie, nur um etwas zu sagen, »und mir ist kalt.« Sie hatte
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