Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
entschuldigte sie sich bei dem Husky. »Ich wusste nicht, dass du hier der Chef bist. Beim nächsten Mal bist du wieder zuerst dran, versprochen.« Sie tätschelte ihm das weiche Fell und bekam ein zufriedenes Knurren als Antwort, ein Zeichen dafür, dass er ihr halbwegs verziehen hatte.
Während Clarissa weiter das Fressen austeilte, stellte Alex sie den anderen Hunden vor. »Die Ruhige mit den spitzen Ohren ist Cloud. Sie ist über drei Ecken mit Billy verwandt und kümmert sich ein bisschen um ihn. Rick ist genauso jung wie Billy, aber ruhiger und klüger.« Er legte einen Finger auf seinen Mund. »Das darf ich nicht zu laut sagen, sonst versteht er mich noch und beißt mir die Ohren ab. Stimmt’s, Billy?« Er lachte. »Der Kräftige heißt Chilco, der würde den Schlitten auch allein ziehen, und der kleine Dicke ist Buffalo, ein bisschen zu faul, aber zuverlässig. Frisst für zwei. Waco, der Schwarze mit den langen Beinen, ist unser Langstreckenläufer. Der rennt noch, wenn die anderen längst zusammengebrochen sind.« Er beobachtete die Hunde eine Weile und lächelte zufrieden. »Sagt der Lady guten Tag! Billy?«
Billy schien ihn tatsächlich zu verstehen, ließ von seinem Fressen ab und jaulte plötzlich so laut und heftig, dass selbst Smoky und der hungrige Buffalo in den vielstimmigen Chor einfielen. Als wäre gerade der Mond aufgegangen, jaulten sie um die Wette, den Blick auf den nahen Waldrand gerichtet.
»Was ist denn in die gefahren?«, wunderte sich Alex. »So haben sie noch keinen begrüßt. Man könnte fast meinen …« Er ließ den Satz unvollendet und blickte misstrauisch zum Waldrand hinüber. »Crazy Joe kann es nicht sein.«
Clarissa folgte seinem Blick und sah plötzlich zwei gelbe Augen zwischen den Bäumen aufleuchten. Nur einen Moment, dann verschwanden sie wieder.
»Bones!«, sagte sie.
11
Das Gefühl, in unmittelbarer Nähe eines Mannes einzuschlafen, verunsicherte Clarissa. Nur der Vorhang, der über einer aufgespannten Leine hing und genug Lücken ließ, durch die ein Mann einer Frau beim Ausziehen zusehen konnte, trennte sie von dem Fallensteller. So nahe war sie nachts noch keinem Mann gewesen. Sie glaubte beinahe seinen Atem zu spüren, so wenig Raum war zwischen seinem und ihrem Nachtlager, und als sein leises Schnarchen plötzlich aufhörte und sein Bettgestell zu knarren begann, hielt sie erschrocken den Atem an und glaubte schon, ihn im nächsten Augenblick hinter ihrem Vorhang auftauchen zu sehen, doch er hatte sich nur umgedreht, und wenige Sekunden später hörte sie wieder sein regelmäßiges Schnarchen.
Sie entspannte sich und schloss beruhigt die Augen. Es hätte sie auch gewundert, wenn er zudringlich geworden wäre. Den ganzen Tag hatte er nicht den geringsten Versuch unternommen, sich ihr zu nähern. Er schien ihr eher schüchtern zu sein und erinnerte sie ein wenig an einen Hinterwäldler, der nur alle paar Monate eine Frau zu sehen bekam, und dann auch nur die Sorte, die sich in den Saloons und Kneipen herumtrieb und ihren Lebensunterhalt damit verdiente, gutgläubigen Männern wie ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen. Entsprechend zurückhaltend war er ihr begegnet. »Lady« nannte er sie, das hatte noch niemand getan, schon gar nicht die Fischer in Vancouver, und selbst, wenn er es spöttisch meinte, zeigte es doch, dass er sie auf gewisse Weise respektierte.
Was mache ich mir Sorgen, dachte sie, bevor sie einschlief. Morgen oder übermorgen bringt er mich zu dieser Witwe nach Beaver Creek, und dann verschwindet er aus meinem Leben. Es ist vollkommen egal, was er von mir hält und ob ihn nur seine Schüchternheit daran hindert, mich zu umgarnen. Auch wenn ich keine Lady bin und er nicht den Eindruck eines einfältigen Hinterwäldlers macht, sind wir doch grundverschieden. Für uns gibt es keine gemeinsame Zukunft. Er kann keine Frau in dieser Wildnis brauchen, und ich bin verrückt, auch nur daran zu denken. Ich werde vom Gesetz verfolgt und mache besser, dass ich so schnell wie möglich von hier wegkomme. Je schneller, desto besser. Und doch … Das letzte Bild, das sie vorm Einschlafen sah, waren seine dunklen Augen, und statt seines Schnarchens hörte sie seine sanfte Stimme.
Am nächsten Morgen wurde sie durch das Heulen des Windes geweckt. Während der Nacht waren dunkle Wolken aufgezogen, und ein heftiger Sturm tobte um das Haus. Dichte Schneewolken, vom Wind wie schäumende Gischt gegen das Haus getrieben, verdunkelten die Fenster. Noch bevor sie
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