Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
schlüpfte sie in ihren Mantel, knöpfte ihn bis zum Hals zu und zog Pelzmütze, Handschuhe und Schal an. Ohne weiter nachzudenken, trat sie in das Unwetter hinaus.
Der eiskalte Wind traf sie wie mit eiserner Faust und riss ihr beinahe die Tür aus der Hand. Sie stemmte sich entschlossen dagegen und zog die Tür mit beiden Händen zu. Der Sturm ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, gönnte ihr nicht einmal einen Augenblick der Ruhe, als sie sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür fallen ließ und erschöpft durchatmen wollte. Jedes Zögern in so einem eisigen Unwetter bedeutete, dass man dem Wind und der Kälte eine Angriffsfläche bot und sich unnötig in Gefahr begab.
Mit dem Rücken zur Hauswand und den Kopf gegen den Wind gesenkt, kämpfte sie sich schrittweise zu den Hunden vor. Den Schnee, den der böige Wind in eisigen Schauern über sie niedergehen ließ, versuchte sie zu ignorieren und fuhr doch jedes Mal zusammen, wenn er ihr Gesicht traf und auf geheimnisvolle Weise unter ihren Mantel und ihren Rock drang. »Alex!«, rief sie, von wachsender Panik geplagt. »Wo stecken Sie? Sagen Sie doch was!«
Wieder antwortete ihr nur ein leises Stöhnen. Ob es vom Wind, von den Hunden oder tatsächlich von Alex kam, vermochte sie nicht zu sagen. »Alex! Sie machen mir Angst! Ist Ihnen was passiert? Wo stecken Sie, verdammt?«
Sie hatte die Hunde erreicht und blieb erschöpft stehen. Neben dem Haus blies der Wind nicht so stark und der Flockenwirbel war lange nicht so dicht wie vor der Eingangstür. Mit einem raschen Blick erkannte sie, dass Billy sein Fressen bereits bekommen hatte, das Vorrecht des Leithunds, er aber die kräftige Suppe nicht angerührt hatte und nervös zum Waldrand blickte. Während er sich erstaunlich ruhig und abwartend verhielt, zerrten die anderen Hunde nervös an ihre Leinen und bellten, heulten und jaulten, als wäre ein Grizzly in der Nähe. »Billy!«, rief sie dem Leithund zu. »Was ist passiert? Wo ist Alex?«
Er musterte sie mit einem Blick, der alles bedeuten konnte, lief ein paar Schritte und blieb vor dem leeren Platz von Smoky stehen. Der schwarze Wildfang mit der weißen Blesse auf der Stirn war verschwunden! Sie sah die abgerissene Leine im Schnee liegen, bückte sich danach und stellte mit Erschrecken fest, dass Smoky sie durchgebissen hatte. Die Spuren waren deutlich und ließen keinen anderen Schluss zu. Er hatte sich aus dem Staub gemacht. In seinem jugendlichen Überschwang war er in den Sturm gerannt, und Alex folgte seinen Spuren und suchte nach dem leichtsinnigen Ausreißer.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Erkenntnis in ihren Gedanken festgesetzt hatte. Alex war irgendwo da draußen und suchte den jungen Husky, in einem tobenden Blizzard, der selbst einem erfahrenen Leithund wie Billy zum Verhängnis werden konnte und den Fallensteller in seiner Sorge um den geliebten Hund so weit von der Hütte weglockte, dass er auch in Gefahr geriet. Auf dem Meer waren selbst erfahrene Seeleute wie ihr Vater in Not geraten und umgekommen, die Natur war überall unberechenbar, auf dem Meer wie hier in den Bergen, und die Gefahren waren nur schwer einzuschätzen. Hatte einer der Fischer nicht von einem Fallensteller erzählt, der nur wenige Schritte von seiner Hütte entfernt in einem tödlichen Blizzard erfroren war?
»Alex!«, rief sie wieder, nur noch lauter und eindringlicher. »Alex! Wir sind hier! Kommen Sie zurück! Warten Sie, bis der Sturm nachgelassen hat! Dann können wir Smoky zusammen suchen!«
Den Blick in die Ferne gerichtet, tätschelte sie Billy, der sein Fressen noch immer nicht angerührt hatte und ebenso nervös schien wie sie. Auch im Jaulen und Heulen der Hunde schwang Angst mit. Selbst die sonst so gelassene Cloud und der träge Buffalo, der sich nur zu solchen Ausbrüchen hinreißen ließ, wenn eine wirklich ernsthafte Gefahr drohte, reagierten aufgebracht und ahnten wohl, dass sich Alex und ihr vierbeiniger Freund in Gefahr befanden.
Clarissa zwang sich zur Ruhe und machte nicht den Fehler, sich vom Haus zu entfernen und in dem Schneesturm nach Alex zu suchen. Sie kannte weder die nähere Umgebung noch die Gefahren und Tücken, die in dem schmalen Tal auf sie warteten. Allein der Tiefschnee, der schon vor dem Sturm zu stattlichen Dünen angewachsen war, konnte einer unerfahrenen Frau wie ihr zum Verhängnis werden, er würde sie beim ersten Fehltritt wie ein gieriges Monster verschlingen und nicht mehr hergeben. Ohne Schneeschuhe und die
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