Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Finger streiften die Rinde, konnten sich aber nirgendwo festhalten. Wieder musste er sich zurückfallen lassen.
Er versuchte es erneut. Dieses Mal erwischte er einen Ast. Klammerte sich daran fest. Jetzt musste es gelingen. Wenn nicht, war er erledigt.
Er schüttelte den Stiefel von seinem freien Fuß, stemmte die nackte Sohle gegen den Eschenstamm und kam halb strampelnd, halb ziehend in die Astgabel hinauf. Dort blieb er keuchend liegen. Der Ast bohrte sich in seinen Bauch. Zumindest hing er nicht mehr kopfüber.
Er hatte keine Zeit zu verlieren. Nach allerlei Verrenkungen kam er auf der Astgabel in die Hocke, wobei er sich nur auf den rechten Fuß stützte. Sein linkes Bein steckte ein ganzes Stück weiter oben in der Schlinge und war unangenehm nach außen gespreizt.
Als er an der Schlinge um den Knöchel zurrte, fielen brennende Rindenstücke wie feuriger Hagel auf ihn herab. Sein eigenes Gewicht hatte die Schlinge so fest um den Stiefel gezogen, dass sich das Seil nicht lockern wollte. Fieberhaft riss er an dem Knoten. Seine rechte Wade zitterte von der Anstrengung, den ganzen Körper im Gleichgewicht zu halten.
Die Schlinge gab kaum merklich nach. Torak arbeitete fieberhaft weiter. Sie löste sich noch ein bisschen. Mehr brauchte er nicht. Drehend und ziehend, befreite er den Fuß aus dem Stiefel, wand ihn aus der Schlinge und sprang auf den Waldboden.
Nach kurzer Suche fand er sein Messer im Unterholz und richtete sich wankend auf. Seine Augen tränten, die Haut kribbelte vor Hitze. Der Rauch hatte den Tag zur Nacht gemacht.
Ein Rehbock preschte an ihm vorbei. Torak vermutete, dass er auf ein Feuchtgebiet zuhielt, und rannte hinter ihm her. Glühende Holzstückchen stachen ihm in die Fußsohlen. Er war barfuß. Aber er hatte keine Zeit mehr, seine Stiefel zu holen.
Im Laufen warf er einen Blick nach hinten. Flammen, größer als die höchsten Bäume, leckten am Himmel. Ein solches Geräusch hatte er noch nie vernommen: Es war wie der Donner von tausend Bisonhufen, er packte sein Herz und quetschte es aus, saugte ihm die Luft aus den Lungen.
Torak ging in die Hocke, um sauberere Luft zu atmen, aber als er sich wieder aufrichtete, war der Rauch so dick, dass er die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Er wusste nicht, wo er war, aber er wusste, dass er sich sofort entscheiden musste, in welche Richtung er laufen wollte – andernfalls würde er sterben.
Ein lautes Kark!
Er konnte die Raben nicht sehen, hörte sie aber hoch über dem Rauch rufen. Blindlings folgte er ihren heiseren Schreien. Brennende Zweige regneten herab. Er lief direkt im Gluthauch des Feuers, rings um ihn knackten und stöhnten die Bäume.
Wieder schaute er nach hinten. Ein Flammenfluss ergoss sich über eine Fichte, die daraufhin in einem Funkenregen zerbarst. Ein Auerhahn flog himmelwärts, fiel dann aber wieder nach unten, wurde von dem brennenden Wind in den Tod gesogen.
Kwoak! Kwoak!, riefen Rip und Rek. Folge uns!
Plötzlich war kein Boden mehr unter seinen Füßen und Torak rollte sich überschlagend bergab.
Als er jäh abgebremst wurde, rappelte er sich mühsam auf alle viere. Seine Hände und Füße versanken in Schlamm: kaltem, nassem, herrlichem Schlamm. Die Raben hatten ihn zu einem See geführt. Eilig watete er ins flache Uferwasser, stolperte über einen Stein und fiel der Länge nach ins Nass.
Der Stein gab ein jämmerliches Wiehern von sich. Es war ein Fohlen, ein kleines schwarzes Fohlen, das bis zu den knubbligen Fesseln im Matsch versunken war und vor Angst und Entsetzen zitterte. Es war zu verschreckt, um sich zu bewegen, aber Torak durfte nicht stehen bleiben, um ihm zu helfen. Er watete vorüber.
Vor ihm lichtete sich der Rauch ein wenig. Jetzt sah er den See und darin die auf und ab schaukelnden schwarzen Köpfe von Pferden, die um ihr Leben schwammen, und dahinter einen Biberbau, groß wie eine Hütte des Rabenclans.
Wieder wieherte das Fohlen in höchster Not und auf dem See drehte sich einer der schwarzen Köpfe um. Die Mutter musste so lange wie möglich gewartet haben, aber als ihr Fohlen ihr nicht folgen konnte, hatte sie es zurücklassen müssen. Jetzt schwamm sie widerstrebend mit der Herde, dazu gezwungen, ihr Junges seinem grausamen Schicksal zu überlassen.
Genau das sollte Torak auch tun: auf den Biberbau zuschwimmen und das Fohlen verbrennen lassen.
Knurrend machte er kehrt, griff in die zottelige Mähne und zog daran.
Das Fohlen verdrehte die weiß geränderten Augen und wollte
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